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Heft 19/2000 STEFAN ERHARDT Über die Minute

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„Klinsmann nun schon vierhundertsechsunddreißig Minuten ohne Torerfolg!“ (Sportpresse) Ach du dickes Ei, dachten wir, vierhundertsechsunddreißig Minuten – für einen Stürmer moderner Prägung das Todesurteil. Und jetzt das: Ganea – Stürmer des VfB Stuttgart und „seit fünfhundertneunzig Minuten ohne Tor!“ (Sportpresse cont.)

436 Minuten – 590 Minuten – es gilt die neue Versagerzeitrechnung im Fußball, aber nicht nur dort. Früher herrschte Großzügigkeit, wurde schlicht in Spielen gezählt, also: mehr als vier, mehr als sechs Spiele ohne Torerfolg. Das war noch kein Kapitalversagen, das war lediglich ein kleines Armutszeugnis.

Aber die Zeiten sind rigoroser, härter, manndeckender geworden. Jede Minute ist mittlerweile in unserem Wirtschaftswunderwachstum kostbar, denn die Ressourcen werden knapper. Weltweit. Kein Wunder, dass man von der analogen zur digitalen Zeit- und Abrechnung übergegangen ist. Carpe diem war früher, jetzt ist jede Sekunde wertvoll, spätestens seitdem die Skirennläufer auf die oder das Hundertstel genau ins Ziel kommen. Die Zeit ist unerbittlich, und man muss sich ihr stellen.

Überhaupt: Machte sich früher der arbeitende Mensch noch Tag für Tag gegen Bares als Tagelöhner ans und ins Werk (analoge Abrechnung, vgl. AAA bei Musikaufnahmen), so kam mit der gesetzlich geregelten 38,5-Stunden-Woche schon der Geschmack des Kleinlichen auf (entsprechend AAD respektive ADD), um mit der Gleitzeit (vgl. die etwa zeitgleiche Einführung des Kondoms als akzeptiertem und gesellschaftlich sanktioniertem Basisbaustein deutscher Körperkultur) endgültig ins Kleinkarierte und Fieselige, aber anstandslos nicht zu beanstandende Saubere zu rutschen (DDD).

Das wird nicht das Ende gewesen sein – wir warten „natürlich“ (R. Beckmann) auf die Sekundenzählung. Leistung muss sich lohnen, Fehlleistung muss fronen – oder so. Wir probieren’s aus: „Lars Ricken bereits sechsundzwanzigtausendeinhundertundsechzig Sekunden ohne Torerfolg“; oder eine Generation weiter: „Jeremies nun schon exakt über eine Viertelmillion Zehntelsekunden ohne einen direkten Schuss aufs Tor!“ Aus Frust pur wird Frust digital.

Geschuldet ist diese Entwicklung a) der Einführung der ran-Datenbank, eine zivilisatorische Großtat ersten Ranges, daraus sich nun jeder Halbgebildete ungeniert bedienen kann; b) der befürchteten Inflation im Zuge der Zwangsumstellung von D-Mark auf Euro; und c) der bis zum vorletzten Jahr unaufhaltsamen „Halbierung der Zahl der Arbeitslosen auf dem deutschen Arbeitsmarkt“ durch Helmut Kohl, dem verkannten Satiriker im Kanzlerpelz.

Komme es, wie es mag, beziehungsweise sei’s drum – wir warten, bis der ein oder andere Knoten platzt oder sich schürzt, halten’s mit jenem 15-Jährigen im Coca-Cola-Werbespot vom April ’98, in dem alle kicken, nur er nicht: „Und ich sammle eben Frösche …“, und löffeln erbsenzählend Suppe zwischen den Spielhälften. Verzeihung: in den neunhundert Sekunden Halbzeitpause.

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