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Ein Gang durchs Archiv

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Das Archiv hat Konjunktur. War es früher lediglich ein Magazin, ein Aufbewahrungsort für literarische Hinterlassenschaften, den forschende Germanisten oder Aficionados aufsuchten, ist es heute ein Schauplatz auf der literarischen Szene und Feuilletonthema. Die Archive haben sich der Öffentlichkeit zugewandt, präsentieren auf ihren Websites kommentierte Fundstücke oder haben einen Blog. Kaum ein Monat vergeht, in dem nicht per Pressemitteilung über Neuerwerbungen informiert wird.

Sammlungspolitik und Ankaufspraxis haben sich geändert: Wurden früher Schätze aus der Vergangenheit konserviert, öffnet sich das Archiv der Gegenwart. Neben Nachlässen von Berühmtheiten wurden immer schon auch Vorlässe erworben, allerdings von Autoren, die bereits über ein Lebenswerk verfügen. Kaum überrascht, dass die Vorlässe von Martin Walser und Hans Magnus Enzensberger im Deutschen Literaturarchiv in Marbach verwahrt werden. Doch immer wieder liest man, dass Autor*innen, deren literarische Arbeit noch längst nicht abgeschlossen ist, ihre Papiere bereits ans Marbacher Archiv gegeben haben: Martin Mosebach und Durs Grünbein zum Beispiel, Sibylle Lewitscharoff, Christian Kracht. Die Motive der Autoren erklärt Ulrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung, ganz prosaisch: »Platzbedarf, Geldbedarf, Ruhmbedarf«.1 Marbach als modernes Pantheon. »Die (Selbst)Einlieferung des Vorlasses ist gewissermaßen eine Bewerbung auf einen Platz im Kanon.«2

Das drückt den Preis, die Ankäufer wissen darum. »Sie nehmen gern von den Lebendigen«, bekennt Ulrich Raulff, ehemals Direktor in Marbach, in einem Aufsatz zu den »Ökonomien des literarischen Archivs«.3 Die Neuerwerbung kann sich auch als Fehlspekulation erweisen, wie Hanna Engelmeier ausführt. Die Ankäufer »gehen eine Wette ein, deren Einsatz höher ausfällt als bei Nachlässen. Sie wetten darauf, dass mit dem Tod der vorlassgebenden Person eine Nachfrage von Seiten der Forschung eintreten wird, durch die sich die Investition in die Archivierung langfristig amortisiert.«4

In Literatenkreisen wird gescherzt: Ist das für Marbach oder kann das weg? Angesichts mancher Elaborate aus der Vergangenheit wird mancher Autor, manche Autorin sich fragen: Ist das für Marbach oder sollte das nicht lieber weg? Es muss ja nicht jede Peinlichkeit, jeder erste, noch unbeholfen suchende Entwurf der Nachwelt überliefert werden. Zum Nachlassbewusstsein gehört auch zu vernichten, was nicht ins Archiv soll – Geheimnisse bewahren, nicht alles offenlegen, wenn es nicht gar darum geht, Korrekturen am Lebenslauf und Schaffensprozess vorzunehmen.

Das Literaturarchiv in Marbach wächst Jahr für Jahr um 1300 Regalmeter. Offiziellen Angaben zufolge ruhen in rund 44 000 Archivkästen mehr als 1000 Nachlässe, Sammlungen von Schriftstellern oder Übersetzern. Wer schafft es ins »Endlager der deutschen Literatur«?5 Philosophen, Germanisten und Gelehrte hat Marbach immer schon gesammelt, den Anfang machte Martin Heidegger, und natürlich gehört das Archiv von Peter Sloterdijk hierher. Aber Rio Reiser? Der Musiker wählte sein Pseudonym nach dem Roman »Anton Reiser« von Karl Philipp Moritz und schrieb neben Liedtexten auch Stücke fürs Straßentheater; nun befindet sich sein Nachlass inklusive Konzertmitschnitten, Musikvideos und Filmen im Literaturarchiv. Noch vor ein paar Jahren wäre Rio Reiser (bzw. seine Erben) abgewiesen worden. In einer langen Kette von Traditionen und Traditionsbrüchen stellt sich immer neu die Frage: Was ist Literatur? Die Literaturarchive müssen diese Frage ebenfalls stellen – und beantworten: durch Aufnahme oder Absage von Angeboten.

Über Geld spricht man in Marbach nicht, aus gutem Grund; manchmal werden trotzdem Zahlen bekannt. Ist der Bund an einem Ankauf beteiligt, so lassen sich aus dessen Anteil Rückschlüsse ziehen.6 Für acht Millionen Euro erwarb Marbach 2009 die Archive der Verlage Suhrkamp und Insel. Zuvor wurden sie am Verlagssitz in Frankfurt am Main verwaltet, als Dauerleihgabe in der Goethe-Universität, ebenso das Uwe-Johnson-Archiv, das Siegfried Unseld bereits 1984 als Depositum übergeben hatte.7 Die Mittel für den Ankauf kamen vom Land Baden-Württemberg, vom Bund, aus Stiftungen und von privaten Sponsoren. Das Deutsche Literaturarchiv Marbach richtete – in Kooperation mit mehreren Universitäten – ein Promotionskolleg zur Erschließung der Verlagsarchive ein, für das die Volkswagen-Stiftung 950 000 Euro zur Verfügung stellte. Knapp drei Jahre später wurde das Johnson-Archiv wieder abgezogen – es fehlten Marbach die finanziellen Mittel, um es zusätzlich zum Verlagsarchiv zu erwerben – und wanderte zur Universität Rostock, wo Uwe Johnson einstmals Germanistik studierte.

Das verstärkte Interesse an Verlagsarchiven bezeugt auch einen Blickwechsel: Galt das Interesse früher der individuellen Dichterpersönlichkeit und der Werkgenese, waren entsprechend Manuskripte und Briefwechsel die bevorzugten Sammelobjekte, so rückt zunehmend der Kontext literarischer Produktion und die Vernetzung im Literaturbetrieb in den Fokus. Im wissenschaftlichen Umgang mit Verlagsarchiven haben, wie der Leipziger Buchwissenschaftler Siegfried Lokatis betont, die alten Bundesländer Nachholbedarf: »Dass seit 1990 schlagartig zahlreiche Archive von DDR-Verlagen und staatlichen Kulturinstitutionen zur Verfügung standen und erforscht werden konnten, hatte im Westen zunächst keine Parallele.«8 »Eine Archivexpedition« unternahmen das Deutsche Literaturarchiv Marbach und das Literaturarchiv der Akademie der Künste Berlin gemeinsam ein Vierteljahrhundert nach der Wiedervereinigung.9 Die DDR ist ein abgeschlossenes Sammelgebiet mit einer besonderen Quelle. »Zu den größten deutschen Literaturarchiven zählt das Bundesarchiv mit seiner Dienststelle Berlin-Lichterfelde. Hier lagern die Druckgenehmigungsakten der Hauptverwaltung Verlage und Buchhandel im Ministerium für Kultur. Fast zu jedem Buch, das zwischen 1951 und 1989 in der DDR erschienen ist (…), finden sich hier ein Antrag, manchmal das Manuskript und mindestens zwei Gutachten.«10 Lokatis schätzt, dass die Hinterlassenschaft der Hauptverwaltung im Bundesarchiv allein für die Schöne Literatur 20 000 Druckgenehmigungsvorgänge umfasst.

Zurück zur Gegenwart, die im Archiv zur Vergangenheit wird. Zur Einlieferung von Christian Kracht,11 der zuvor schon seine in Nepal gesammelte »Kathmandu Library« Marbach überließ, gehört, was man von einem Schriftsteller erwarten kann: Typo- und Manuskripte, darunter »Vampyr«, ein erster Entwurf zum Roman »Die Toten«, das Korrekturexemplar des Romans mit Anmerkungen des Lektors, ein Drehbuch, frühe Essays, Notizbücher sowie, bei Kracht wenig überraschend, Reiseunterlagen, Flugtickets, Visitenkarten von Hotels aus aller Welt. Urkunden und Bescheinigungen, von einer argentinischen Pilotenschule und der Besteigung des Kilimandscharo, außerdem im grünen Karton eine kleine Figur: Sigmund Freud in Plastik, noch eingeschweißt. Was geschieht nun mit dem Nippes? Auch Plastik-Freud wird ordentlich katalogisiert und archiviert und somit der Nachwelt überliefert »Mag sein (…), daß die Literatur das Archiv als wilder Kerl betritt«, sinniert Raulff in seinem Essay »Wie kommt die Literatur ins Archiv – und wer hilft ihr wieder heraus?«: »Aber wenn sie es verlässt, ist sie eine Kulturtatsache.«12

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