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Das Archiv im Zeitalter der digitalen Reproduzierbarkeit

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Die Komplexität von Schriftstellernachlässen lässt sich mit den klassischen Kategorien archivarischer Erschließung nur schwer abbilden. Diente die Digitalisierung von Archivbeständen ursprünglich nur der Sicherung und Schonung der Originale, sind im digitalen Archiv aufschlussreiche Kontextualisierungen möglich. Ein Dokument im digitalen Archiv enthält, sofern es sich nicht um eine mechanische Kopie, ein bloßes PDF des Papierdokuments handelt, mehr Informationen als das Original, denn das Digitalisat ist auf Stichworte aller Art durchsuchbar und lässt sich mit anderen Texten und Quellen verlinken. Die Einbindung von Daten und Metadaten aus verschiedenen Beständen lässt Entstehungs- und Rezeptionszusammenhänge sichtbar werden und ermöglicht die virtuelle Rekonstruktion eines verstreuten Gesamtnachlasses.

Neue, zum Teil noch nicht abgeschlossene Projekte gelten Autorinnen und Autoren, die aus dem nationalsozialistischen Deutschland fliehen mussten und nach einem Brecht-Wort die Länder öfter als die Schuhe wechselten. Um den Nachlass von Heinrich Mann einzusehen, musste man bislang Archive in Berlin und Frankfurt, Los Angeles und Moskau, Zürich und Marbach, Prag und München aufsuchen. Ein internationales Kooperationsprojekt – beteiligt sind die Akademie der Künste Berlin, wo allein 30 000 Scans angefertigt werden, die University of Southern California, das Archiv im Museum tschechischer Literatur in Prag, die Feuchtwanger Memorial Library und andere Institutionen – ermöglicht die virtuelle Zusammenführung der zerstreuten Bestände. Ganz ähnlich »Stefan Zweig digital«, ein Informations- und Forschungsportal. Es beruht auf einer Initiative des Literaturarchivs Salzburg und ergänzt die eigenen Bestände mit den in der Daniel Reed Library in Fredonia / New York und der National Library of Israel bewahrten Manuskripten. Mit »Poetic Textures: Else Lasker-Schüler Archives«33 öffnen die National Library of Israel und das Deutsche Literaturarchiv Marbach eine gemeinsame Plattform, welche die Bestände beider Institutionen digital vereint. Wer Lasker-Schülers Briefwechsel mit Martin Buber, Albert Einstein oder Thomas Mann lesen wollte, musste nach Jerusalem reisen, wer die Korrespondenz mit Sylvain Guggenheim, Franz Marc, oder Karl Wolfskehl einsehen wollte, nach Marbach. Dabei wird nicht nur das literarische Werk präsentiert, zum Beispiel das kommentierte Typoskript von »Mein blaues Klavier«, sondern die bewusst hybride Form der Kunst Else Lasker-Schülers deutlich: Die Manuskripte, Briefe, Telegramme, Fragmente, Collagen und Zeichnungen offenbaren die Auflösung von Grenzen zwischen Leben und Kunst, Schrift und Zeichnung, inszeniertem Selbst und imaginären Figuren.

»Alles erschlossen, alles digitalisiert«,34 verkündet das Thomas-Mann-Archiv an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich: gut 31 000 Korrespondenzstücke, rund 2500 Werkmanuskripte, dazu Tagebücher und Notizen, von Thomas Mann gesammelte Werkmaterialien und über 83 000 Zeitungsausschnitte. Die Datenbank Thomas-Mann-Archiv Online (ethz.ch) stellt eine elektronische Abbildung des Archivbestands dar. In einer hierarchischen Baumstruktur steht die oberste Stufe für das Thomas-Mann-Archiv; durch Öffnen der darunterliegenden Stufen werden die verschiedenen Bestände, Teilbestände, Dossiers und Einzelstücke sichtbar. Je weiter man in die Tiefe der Teilbestände geht, desto spezifischer werden die Informationen. Auf der untersten Tektonikstufe sind Informationen zum ausgewählten Dokument erfasst, verbunden mit Zusatzinformationen wie Verweisen auf andere Dokumente oder Veröffentlichungen.

Mit der detaillierten Suche können Treffer eingeschränkt werden nach Typ, Zeitraum und Suchbereich. Man kann aber auch die Volltextsuche nutzen und so durch die Bestände surfen. Bei dem Stichwort »Film« erzielt man 1391 Treffer, gibt man im Suchfeld »Film Krull« ein, reduziert es sich auf 58 Treffer. Verzeichnet wird, ob ein Brief im Original oder als Durchschlag vorliegt; gibt es dazu einen Entwurf, eine Abschrift oder ein Fragment, werden diese in einem Dossier zusammengefasst. Im Archiv nicht vorhandene, aber publizierte Briefe sind ebenfalls erfasst.

Die Digitalisate zu den Beständen sind jedoch nur im Lesesaal des Thomas-Mann-Archivs einsehbar, nicht online. Thomas-Mann-Archiv Online ist ein digitales Findbuch, das nicht den Besuch des Archivs vor Ort erspart.35 Zugleich ist es eine Plattform, die Sekundärliteratur in bisher nicht gekanntem Umfang abbildet: eine online verfügbare Ressource für die literaturwissenschaftliche Forschung.

Ein anderes Pionierprojekt gilt einem lebenden Autor: Peter Handke. Er hat seinen Vorlass an verschiedenen Orten deponiert; auf der Plattform Handkeonline36 werden sie zusammengeführt: der Bestand im Literaturarchiv der Österreichischen Nationalbibliothek (der wiederum aus zwei Beständen, einer Privatsammlung von Handkes ehemaligem Vermieter und der vom Dichter angekauften »Chaville«-Sammlung besteht) mit den in Marbach verwahrten Notizbüchern sowie einigen »Splitterbeständen«.37 Neben dem Modul »Werke und Materialien« gibt es Themenfelder wie »Handkes Orte« oder »Werkzeuge des Schreibens«. Im Modul »Notizbücher 1971–1990« werden die 66 Exemplare aus der Zeit tabellarisch erfasst und ihr Inhalt beschrieben, dazu gibt es Beispielseiten als Faksimiles. (2017 übergab Handke dem Marbacher Archiv 154 Notizbücher aus den Jahren 1991–2015, die noch nicht öffentlich einsehbar sind.)38

War bisher von der Digitalisierung von Papier die Rede, so muss sich das Archiv zunehmend auf Born-digital-Materialien einstellen, die auf dem Computer geschrieben wurden. Damit verändern sich die Methoden zur Erschließung, Sicherung und Aufbereitung von Archivalien radikal. Ein großes Problem stellen veraltete Dateiformate dar. Nicht mehr lesbare Disketten verzeichnet das Findbuch zum Nachlass von Thomas Brasch in der Akademie der Künste. Hier sind EDV-Experten gefragt, die mit alten Floppy-Disks ebenso umgehen können wie mit den heutigen USB-Sticks und »digitale Forensik« beherrschen. Nur ein Beispiel dafür, welche Herausforderungen auf das Archiv zukommen: Friedrich Kittlers Nachlass besteht aus neun Festplatten, 648 Disketten, 100 CD-ROMs, 1,1 Terabyte umfassende Dateien und wird Marbach über Jahre beschäftigen.

Das konventionelle Archiv war und ist gefährdet durch Diebstahl, unsachgemäße Lagerung, Feuer- und Wasserschaden oder Katastrophen wie im März 2009 der Einsturz des Kölner Stadtarchivs (wobei unter anderem das Verlagsarchiv von Kiepenheuer & Witsch sowie das Heinrich-Böll-Archiv vernichtet wurde). Das digitale Archiv ist anderen Gefährdungen ausgesetzt. Die Entmagnetisierung schreitet schneller voran als der Zerfall von Papier, noch schneller ist die technische Entwicklung. Inzwischen sind mit »Open Archival Information Systems« Standards für die Langzeitarchivierung digitaler Ressourcen entwickelt worden, die über die langfristige Lesbarkeit hinausgehen: Das »Archival Information Package« enthält neben den eigentlichen Daten auch verborgene Informationen zur Bearbeitungsgeschichte, um so die Integrität und Authentizität des Digitalisats zu gewährleisten.39

Galten bisher Archive als »hermetisch abgeriegelte Räume, die die alleinigen Bedingungen der Einsicht ihrer Inhalte sowie die Autorität über deren Ordnung besitzen«,40 so ist der Besuch des digitalen Archivs weder an den Ort noch an Öffnungszeiten gebunden. Der Nutzer kann sich in diesen Räumen frei bewegen und seinen Interessen nachgehen. Gewissen Vorgaben entkommt er jedoch nicht: Der Webmaster hat entschieden, welche verstreuten Materialien wie virtuell zusammengeführt werden und welche Ordnungs- und Sortierungsmöglichkeiten zur Verfügung stehen. »Somit büßt das Archiv seine Definitionsmacht nicht ein, sondern passt seine Funktionsweisen den Anforderungen und der Logik des Raumes an«41 und verliert keineswegs die Deutungshoheit über das Archivgut.

Bekam der Benutzer früher eine Mappe mit den Dokumenten, die er im Lesesaal – mit weißen Handschuhen, unter Aufsicht – durchblättern und die Originale in die Hand nehmen konnte, muss er sich nun mit dem Digitalisat begnügen. Ein Verlust der Aura. Allein schon, dass das Material überall im ortlosen Internet einsehbar ist, bewirkt dies.42 Zudem ist es kein Relikt der Vergangenheit mehr, sondern aufbereitet und transformiert in eine abstrakte Datenstruktur. Georg Vogeler hat die Frage aufgeworfen, wieweit »das Digitale Archiv als Vermittler zwischen Entstehungszusammenhang und forschender Benutzung nicht die Anschauung von Archivgut substanziell verändert«.43

Das Original wird zum Ausstellungsobjekt, die digitale Kopie ist für die Forschung. Im Literaturmuseum unterscheidet sich das Manuskriptblatt nicht von anderen Reliquien aus dem Dichterleben. Handschriften Hölderlins oder ein Brief Kafkas konkurrieren als Schauobjekt mit Schillers Schreibfeder, dem Henkersbeil mit Christian Morgensterns »Galgenliedern« und Ernst Jüngers Stahlhelm aus dem Ersten Weltkrieg (mit Einschusslöchern). Überhaupt Waffen: Kurt Tucholskys Revolver wird in der Akademie der Künste Berlin verwahrt, die Waffe, mit der sich Wolfgang Herrndorf erschoss, in Marbach. Das Werkzeug, mit dem der Schriftsteller sein Leben beendete, besitzt das Literaturarchiv, jedoch nicht eine einzige Zeile Text von ihm.44

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