Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv - Группа авторов - Страница 7
Das Archiv – eine Begriffsverwirrung
Оглавление»Das Archiv zirkuliert. Der Schlüsselbegriff der Wissensgeschichte kursiert in Philosophie und Epistemologie, in Kunst- und Kulturwissenschaft, in Medien-, Wissenschaftsgeschichte. In allen diesen Bereichen ist er zur geläufigen Metapher für kulturelles Gedächtnis, Bibliothek und Museum, ja für jede Art der Speicherung geworden«, beklagen Knut Ebeling und Stephan Günzel in ihrer Einleitung zu dem Band »Archivologie«.13 Schon der Titel ihres Buches verweist auf Jacques Derrida und dessen Buch »Dem Archiv verschrieben«. Die von ihm projektierte Archivologie verstand er als »eine allgemeine und interdisziplinäre Wissenschaft des Archivs«.14
Vorausgegangen war ein viel zitiertes Diktum von Michel Foucault, das den Diskurs in den 1990er Jahren bestimmte. Archiv bezeichnet bei ihm nicht einen materiellen Aufbewahrungsort, sondern er verwendet den Begriff metaphorisch. Denn unter Archiven versteht Foucault »nicht die Einrichtungen, die in einer gegebenen Gesellschaft gestatten, die Diskurse zu registrieren und zu konservieren, die man im Gedächtnis und zur freien Verfügung behalten will«.15 Der Philosoph betont, dass er ebenfalls »nicht die Summe aller Texte, die eine Kultur als Dokumente ihrer eigenen Vergangenheit (…) bewahrt hat«, als Archive bezeichnen würde.16 Foucault begreift das Archiv als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«, als »System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht«. Jenseits der abstrakten Metapher hat Foucault mit seinem Text das traditionelle Verständnis des real existierenden Archivs erschüttert. »Das Archiv ist nicht der Ort, auf den man stets zurückgreifen kann, um die Fakten zu finden, es ist der aktive Vorgang, welcher für eine permanente Umschichtung und fortlaufende Transformation der Fakten sorgt.«17
Derrida schreibt Foucault fort, wenn er konstatiert: »Eine Wissenschaft des Archivs muß die Theorie dieser Institutionalisierung, das heißt zugleich die Theorie des Gesetzes, das sich anfangs darin einschreibt, und des dadurch autorisierten Rechts, einschließen.«18 Er koppelt das »Gesetz des Sagbaren« wieder an das reale Archiv: »In der Überkreuzung des Topologischen und des Nomologischen, vor Ort und Gesetz, Träger und Autorität, wird ein Schauplatz verbindlicher Ansiedlung sichtbar und unsichtbar zugleich.«19 Das Archiv ist ein Ort der Produktion einer Erzählung, es entscheidet, was und »in welcher Form Geschichte verfügbar ist und was unter Verschluss bleibt«.20 Schon der Untertitel von Derridas Buch: »Eine Freudsche Impression« offenbart, dass Verdrängung dessen, was nicht ins Archiv kommt, ebenso aussagekräftig ist wie die dort bewahrten Archivalien.
Das Archiv ist Aleida Assmann zufolge »ein kollektiver Wissensspeicher«.21 Prinzipiell lassen sich zwei Arten von »institutionalisierte(m) Gedächtnis« feststellen, das »Funktionsgedächtnis« und das »Speichergedächtnis«.22 Ersteres zeichnet sich durch einen »Gruppenbezug, Selektivität, Wertbindung und Zukunftsorientierung« aus.23 »In totalitären Staaten, die eine zentrale Kontrolle über das soziale und kulturelle Gedächtnis ausüben, oder dort, wo die Kriterien der Aufnahme zu einer engen Begrenzung führen, wird das Archiv die Form eines Funktionsgedächtnisses annehmen.«24 Das Speichergedächtnis wiederum ist ein »Gedächtnis zweiter Ordnung (…), das in sich aufnimmt, was seinen vitalen Bezug zur Gegenwart verloren hat«.25 Die Zuordnungen sind jedoch nicht beständig, ein Übergang in beide Richtungen ist möglich.
Boris Groys kritisiert Foucaults Definition. Denn einerseits betone die poststrukturalistische Theorie die »Materialität der Zeichen« und auch Foucault definiere das Archiv als »System der Zeichen«.26 Dennoch soll es »auf einen verborgenen Träger eingeschrieben« sein, »der nirgendwo aufbewahrt, unzerstörbar und immer abrufbar ist. Ein solcher Träger ist aber nur denkbar (…), auf keinen Fall materiell vorstellbar.« Für Groys hingegen ist das Archiv »real existierend (…) – und in diesem Sinne auch durch die Zerstörung bedroht und deswegen endlich, exklusiv, begrenzt, so daß nicht alle möglichen Aussagen in ihm vorformuliert gefunden werden können«. Die Forderung nach dem Neuen setze ein, »wenn alte Werte archiviert und dadurch vor der zerstörerischen Arbeit der Zeit geschützt werden. Wo keine Archive existieren oder sie in ihrer physischen Existenz bedroht sind, wird die Weitervermittlung der intakten Tradition vorgezogen.«27 Das Neue ist Groys zufolge »der Vollzug eines neuen Vergleichs von etwas, das bis dahin noch nicht verglichen wurde«.28 »Das kulturelle Gedächtnis ist die Erinnerung an diese Vergleiche« und es bewahrt das Neue, sofern es sich um einen neuen Vergleich handelt.
Moritz Baßler, der im kritischen Impuls gegenüber der dekonstruktivistischen Theorie Boris Groys folgt, legt seinen Untersuchungen einen »pragmatischen Archivbegriff« zugrunde. »Was nicht im Archiv ist, kann kulturwissenschaftlich nicht behandelt werden.«29 Seine literaturwissenschaftliche Text-Kontext-Theorie kann hier nicht behandelt werden, angestrichen habe ich mir einen von Baßler zitierten Satz aus Wolfgang Ernsts Buch »Das Rumoren der Archive. Ordnung aus Unordnung«: »Potentielle Aktualität ist der Aggregatzustand, in dem die Archivdaten verharren – eine Lage radikaler Latenz.«30 Baßler hat – ganz ohne Theorie, vielmehr als empathischer Leser – in den Autoren des deutschen Pop-Romans »die neuen Archivisten« ausgemacht.31
Das Schlusswort erhält Thomas Kling: »Alles ist Archiv. Alles ist im Begriff, Archiv zu werden.«32