Читать книгу TEXT + KRITIK Sonderband - Ins Archiv, fürs Archiv, aus dem Archiv - Группа авторов - Страница 9
Die Lücke in der Bibliothek
ОглавлениеAutoren arbeiten nicht voraussetzungslos, sie schreiben – bewusst oder unbewusst – vorhandene Literatur fort. Ihre Büchersammlung bezeugt, was sie gelesen haben und bildet oft einen Schlüssel zum literarischen Werk. Der Aussagewert von Autorenbibliotheken ist jedoch von unterschiedlicher Natur und Qualität. Sind dort Erkenntnisse über literarische Einflüsse zu gewinnen, handelt es sich um Arbeitsmaterialien, die Eingang in die literarische Fiktion fanden, oder war der Autor schlicht ein Bücherliebhaber, dessen Sammlung ein persönliches Profil aufweist? Unterscheiden muss man zunächst zwischen der realen Bibliothek, die den Weg ins Magazin gefunden hat, und der virtuellen Bibliothek, die den tatsächlichen Lektürekanon eines Autors umfasst. Autorenbibliotheken kommen meist mit dem Nachlass ins Literaturarchiv. Sie sind eine Bestandsaufnahme zum Zeitpunkt des Ablebens ihres Besitzers (sofern nicht Erben schon wertvolle Stücke verkauft oder verschenkt haben). Neben gelesenen Werken finden sich dort von Schriftstellerkollegen übersandte, oftmals gewidmete Bücher, aber auch von Verlagen oder Autoren zugeschickte Rezensionsexemplare. Die Dynamik einer Sammlung – wann und wo wurde das Buch erworben, wann und warum hat der Besitzer sich davon getrennt – bleibt meist verborgen, hat der Autor nicht entsprechende Vermerke vorgenommen.
Das Deutsche Literaturarchiv Marbach besitzt die Büchersammlungen unter anderem von Gottfried Benn, Hans Blumenberg, Ernst Jünger, Siegfried Kracauer, Martin Heidegger, Hermann Hesse und W. G. Sebald. Die dort vorhandene Bibliothek von Paul Celan umfasst 4697 Bände, doch dies ist nur ein Teil: Eine Rekonstruktion der virtuellen Bibliothek erweitert diesen Bestand um 1519 Titel, die Celan nachweislich besessen hat, die aber nicht überliefert sind. Der online einsehbare Katalog Kallías (Modul Bibliothek)45 liefert außerdem Informationen zu früheren Standorten, sogar zur ursprünglichen Aufstellungsordnung der Bücher in Paris und Moisville. Im Fall Celan ist die Relevanz der Autorenbibliothek für die Forschung seit Langem bekannt. Ein Fund der besonderen Art ist Alexander Spoerls heiterer Ratgeber »Teste Selbst. Für Menschen, die ein Auto kaufen«, die auf den ersten Blick skurril wirkende »Quelle« für die hermetischen Gedichte »Die herzschriftgekrümelte« und »Unverwahrt«.46
Bücher haben bekanntlich ihre Schicksale, in Autorenbibliotheken sind sie gebündelt. Stefan Zweigs Bibliothek umfasste Mitte der 1930er Jahre etwa 10 000 Bände, von denen heute noch rund 1300 nachweisbar sind. Obwohl nur ein Bruchteil bekannt ist, erlaubt das im Rahmen von »Stefan Zweig digital« erarbeitete Verzeichnis einen Einblick in die von Zweig wahrgenommene, gelesene und für seine Werke genutzte Literatur.47 Dabei ist zu beachten, dass die im Katalog enthaltenen Bücher zu keinem Zeitpunkt gleichzeitig in seiner Bibliothek vorhanden waren. Mit der Flucht ins Exil und der Auflösung des Haushalts in Salzburg 1936 / 1937 wurde der allergrößte Teil der Bücher verkauft oder verschenkt. Für seine neue Wohnung in London stellte sich Zweig aus ausgewählten Resten und Neuerwerbungen eine kleinere Arbeitsbibliothek zusammen. Über den eigenen Besitz hinaus nutzte er – vor allem in den Jahren des Exils – auch Bücher aus öffentlichen Sammlungen. Die Rekonstruktion der virtuellen Bibliothek wurde zur akribischen Detektivarbeit: Da nur ein geringer Teil der Bände dem früheren Besitz Zweigs durch Namenseinträge oder Widmungen auf den ersten Blick eindeutig zugeordnet werden kann, spielte bei der Katalogisierung die Ermittlung weiterer Provenienzmerkmale wie beispielsweise den in Zweigs Bibliothek benutzten Signaturen eine besondere Rolle. In den einzelnen Katalogeinträgen wurden auch die zahlreichen Standortangaben und Aufstellungssysteme festgehalten, deren Bedeutung noch nicht vollständig entschlüsselt werden konnte. Signaturreihen, wechselnde Nummernsysteme und wiederkehrende Kombinationen in thematisch ähnlichen Büchern lassen jedoch Rückschlüsse auf frühere Aufstellungen und auf Fehlstellen in den vorhandenen Beständen zu.
Nicht alles hatte Thomas Mann vor den Nationalsozialisten retten können: Gerade mal die Hälfte der Bücher aus seiner Bibliothek hatten Erika, Golo und Freunde in die Schweiz geschafft, als die Münchner Villa in der Poschinger Straße am 25. August 1933 beschlagnahmt wurde. Recherchen der Arbeitsgruppe NS-Raubgutforschung ergaben, dass die Bücher mit dem Vermerk »Herkunft unbekannt« in den Bestand der Bayerischen Staatsbibliothek integriert wurden. 78 Bände, oftmals mit Widmungen versehen, konnten als Werke aus der Privatbibliothek Thomas Manns identifiziert und dem Archiv in Zürich übergeben werden.
Thomas Manns Bibliothek ist Teil des an der ETH Zürich bewahrten Nachlasses. Wobei es sich nicht um »seine Bibliothek« handelt, sondern auch die seiner Frau Katia, überdies befinden sich Bände mit dem Eigentumsvermerk von Heinrich Mann oder mit Lesespuren von Klaus Mann in der Sammlung.48 Diese Nachlassbibliothek ist durch eine Datenbank mustergültig erschlossen.49 Man kann sortieren nach Urheberschaft, Publikationsjahr etc. Auch die Lesespuren sind differenziert erfasst. Der Filter »Phänomen« bietet die Unterkategorien Marginalie, Korrektur, Ausrufezeichen, Fragezeichen, Unterstreichung, Anstreichung, Häkchen usw.; die Farbe der Stiftspur ist ebenso verzeichnet wie deren Ausprägung (einfach, mehrfach, ausradiert). Im Netz sind jedoch meist nur Miniaturen der jeweiligen Seiten zu sehen – auch hier gilt: »Inhalte aus rechtlichen Gründen gesperrt. Zugang vor Ort im Thomas-Mann-Archiv.«
Auch eine Bibliothek kann, wie Anke Jaspers am Fall Thomas Mann aufgedeckt hat, eine Autorschaftsinszenierung sein. Als ein ehemaliger Schulkamerad nach dem Zweiten Weltkrieg ein Thomas-Mann-Archiv in Lübeck plante, nutzte der Schriftsteller die Gelegenheit, einen Teil seiner immens angewachsenen Bibliothek abzustoßen. Er sortierte jedoch nicht aus, was ihm nicht des Sammelns wert erschien, sondern schickte im Gegenteil Erstausgaben und Übersetzungen seiner Werke, zudem Sekundärliteratur, Porträts und Darstellungen, die ihm besonders wichtig waren. Schon bei diesem ersten, noch privaten Archiv zeigte sich: »Thomas Mann konzipierte sich selbst innerhalb seines Nachlasses als handelndes Subjekt und als behandeltes (Forschungs-)Objekt.«50
Neben ihren eigenen Beständen nutzen Autoren auch öffentliche Bibliotheken. Die Ausleihvorgänge dürften aber nur noch in seltenen Fällen nachzuverfolgen sein. Im Netz wurde eine Karte aus der Bibliothek des DDR-Schriftstellerverbands angeboten, ein Buch, das nicht in der DDR zu haben war: John Dos Passos’ »Jahrhundertmitte«, erschienen bei Rowohlt 1963. Erstmals ausgeliehen wurde das Buch am 26. Februar 1964. An siebter Position: Christa Wolf. Am 16. August 1965 lieh sich Wolf das Buch aus, am 30. November gab sie es zurück. Wie alle Schriftsteller, die vor oder nach ihr den Roman entliehen, Elfriede Brüning, Rudi Stahl oder Richard Pietraß, hat Christa Wolf persönlich unterschrieben, und so wurde die graue Karteikarte zum Objekt des Autographenhandels.
Die Literaturwissenschaft hat den »Randkulturen« in letzter Zeit verstärkt ihre Aufmerksamkeit gewidmet. Uwe Wirth siedelt Lesespuren »an der Schnittstelle zwischen Leseprozess und Schreibprozess« an und sieht in Anstreichungen oder Randbemerkungen »Inskriptionen, die als avant-intertextuelle Indices fungieren können«.51 Magnus Wieland setzt dagegen die These, »dass sich die wirklich produktive Lektüre nur selten in Inskriptionen niederschlägt, dass sich der durch Literatur empfangene Einfluss gerade nicht materiell belegen lässt, weil er oft unbemerkt bzw. unbewusst erfolgt«.52 Den aus der Rekonstruktion von Autorenbibliotheken zu gewinnende Erkenntniswert schätzt er entsprechend gering ein. »Was wir von Autorenbibliotheken erfahren können, ist lediglich, welche Spuren die Besitzer in ihnen hinterlassen und wie sie sich lesend selbst darin eingeschrieben haben. Welche Eindrücke sie jedoch produktiv aus ihnen empfangen haben, ist eher im Hinblick auf ihr eigenes Werk als im Rückblick auf die Autorenbibliothek zu beantworten.«53