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Ein akademisches Unternehmen: das Corpus Inscriptionum Latinarum Theodor Mommsen (1817–1903)

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von Simon Dewes

Lange bevor Theodor Mommsen das „Römische Staatsrecht“ veröffentlichen, sich als Wissenschaftsorganisator einen Namen machen und als erster Deutscher für seine „Römische Geschichte“ den Nobelpreis für Literatur erhalten sollte – kurz gesagt: Lange bevor Mommsen der bedeutendste Altertumswissenschaftler des 19. Jahrhunderts geworden war, gingen im Königreich Neapel seltsame Dinge vor sich. Immer wieder scharten sich in den Straßen des Königreichs wildfremde Passanten um einen vielversprechenden ehemaligen Studenten der Jurisprudenz aus Schleswig-Holstein, um diesem neugierig dabei über die Schulter zu schauen, wie er selbst in den kleinsten Dörfern von Gebäuden, Brücken und anderen Bauten römische Inschriften in einen Notizblock übertrug. Der junge Mommsen hatte einen Plan.

Sämtliche erhaltenen lateinischen Inschriften bis zum 6. nachchristlichen Jahrhundert zu begutachten und zusammenzutragen, dafür war es hohe Zeit! Und „sämtliche“ hieß tatsächlich „sämtliche“. Alle. Ausnahmslos. Nun gut, mit Ausnahme der antiken christlichen Inschriften, aber die passten Mommsen thematisch nicht. Die Dimensionen dieses Unternehmens waren so gewaltig wie die Ausdehnung des Römischen Reiches. Von Marokko bis Rumänien, von England bis Syrien: Die Römer waren fast überall in den Grenzen der ihnen bekannten Welt gewesen, und überall hatten sie ihre Inschriften hinterlassen, in den Stein gemeißelt und gehauen: Inschriften zur Repräsentation römischer Macht, zur Demonstration römischer Größe, Inschriften über die Gesetzeslage, beschriftete Grabsteine oder auch nur Alltäglichkeiten. Die Funde mussten in die Hunderttausende gehen. Alles zusammen ein Panoptikum römischen Lebens. Ein gewaltiger historischer Schatz, den Mommsen systematisch heben wollte.

Die Idee, sämtliche Inschriften des Römischen Reiches zu sammeln, ging auf den dänischen Forscher Kellermann zurück, der 1837 gestorben war und seine Vorarbeiten dem Deutschen Archäologischen Institut in Rom hinterlassen hatte. Ausgestattet mit einem zweijährigen Reisestipendium der dänischen Regierung traf Mommsen dort 1846 ein. Ursprünglich hatte er geplant, eine Neuauflage römischer Gesetzesurkunden anzufertigen; eine Idee, für die er mit Savigny und Boeckh auch Unterstützer in der Berliner Akademie der Wissenschaften gefunden hatte. Als er nun aber im Deutschen Archäologischen Institut in Kontakt mit dem mittlerweile brachliegenden Unternehmen Kellermanns kam, erkannte er dessen Bedeutung und beschloss, es fortzuführen.2

Das grundstürzend Neue dieser Inschriftensammlung war deren Methode. Schon zuvor hatten Altertumsforscher Inschriften gesammelt und publiziert. Allerdings hatte man bei den bislang erschienenen Editionen meist auf ältere Quelleneditionen zurückgegriffen. Diese wurden zerschnitten, neu zusammengestellt und umfangreich annotiert. Neues Wissen konnte bei dieser Manier schwerlich entstehen. Demgegenüber setzte Mommsen es sich nun zum Ziel, die Inschriften planmäßig und vollständig zu erfassen, indem er diese persönlich vor Ort aufsuchte und abschrieb. Darüber hinaus sollte Mommsens Edition auch die nur noch in Handschriften erhaltenen Inschriften umfassen. Nur durch diese systematische Herangehensweise war es theoretisch möglich, neue Erkenntnisse zu erlangen und einen vollständigen Grundstock an Quellen anzulegen.

Mit dem Entschluss war es allerdings nicht getan. Nun fingen die Probleme für Mommsen erst an. Tatsächlich türmte sich gleich ein ganzer Berg von Problemen vor ihm auf: Wie sollte ein einzelner Mensch dazu in der Lage sein, alle Inschriften des römischen Weltreiches zu sammeln? Es lag auf der Hand, dass dies nur in einem groß angelegten, im besten Falle auch internationalen Wissenschaftsunternehmen möglich war, das jahrzehntelang tätig sein würde. Wer aber sollte das bezahlen? Die Berliner Akademie der Wissenschaften war hierfür zwar der natürliche Ansprechpartner, aber dort saß Mommsens Förderer Boeckh und war von dem Projekt ganz und gar nicht begeistert, war doch seine eigene, auf traditionelle Weise erstellte griechische Inschriftensammlung gerade im Erscheinen begriffen. Hätte diese nun durch den Plan eines Jungakademikers das Signet wissenschaftlicher Unbrauchbarkeit aufgedrückt bekommen sollen, weil es ihr an Systematik fehlte?

Man kann Mommsen nicht vorwerfen, dass er für sein Projekt nicht gekämpft hätte. Um die Vorzüge seiner Methode praktisch aufzuzeigen, entschloss er sich, die Inschriften einer Region selbst zusammenzutragen. Bartolomeo Borghesi, der Doyen der Epigrafik (Inschriftenkunde), legte ihm das Königreich Neapel ans Herz, und so brachten Mommsens öffentliche Abschreibestunden Amüsement und Gesprächsstoff in diese Region. Allein, es erwies sich als vergebens. Boeckhs Einfluss an der Akademie war noch zu stark. Eine Mehrheit für Mommsens Unternehmen lag in weiter Ferne. Ihm blieb nichts anderes übrig, als sein Inschriftenprojekt einstweilen mit seinem Stipendiengeld alleine fortzuführen und auf bessere Zeiten zu hoffen. Dies war ihm auch das Risiko wert, sein Stipendium für eine Tätigkeit zu verschwenden, die womöglich niemals Früchte tragen sollte. Die restliche Zeit seines Italienaufenthalts verbrachte er daher damit, auf eigene Faust die Inschriftensammlung zu ergänzen. Abwechslungsreicher Zeitvertreib war das kaum. Stattdessen bedurfte es unermüdlicher Disziplin, um über der Eintönigkeit dieser Tätigkeit nicht den Mut zu verlieren – zumal vor dem Hintergrund einer fehlenden Finanzierungszusage für das Gesamtprojekt. Gleichwohl ließ Mommsen sich nicht beirren, wusste er doch, dass zumindest das Deutsche Archäologische Institut auf seiner Seite stand und auch Borghesi die Inschriftensammlung für gut befunden hatte. Es war also vielleicht noch nicht aller Tage Abend.

Immerhin erhielt er nach seiner Rückkehr aus Italien eine Professur für Rechtswissenschaften in Leipzig. Seinen Lehrstuhl verlor er aber alsbald wieder, nachdem er im Jahre 1849 angesichts des drohenden Scheiterns der 1848er-Revolution mit zwei Kollegen zusammen durch die Straßen gezogen war. Mit dem Ruf „Bürger heraus!“ hatte er eine Volksversammlung einberufen und zum bewaffneten Kampf übergehen wollen. Friedrich Wilhelms IV. Ablehnung der ihm angetragenen Kaiserkrone war dem liberalen, kleindeutsch-erbkaiserlich orientierten Mommsen unerträglich. Obgleich er vor dem Hintergrund eines bevorstehenden Truppeneinsatzes schon am nächsten Tag von diesem Aufruf Abstand genommen hatte, wurde er daraufhin strafrechtlich und politisch verfolgt. Die strafrechtlichen Vorwürfe wurden zwar in der Berufungsinstanz fallengelassen, aber das Ministerium entließ die an dem Aufruf beteiligten Professoren 1851 aus dem Universitätsdienst.

Inschriftencorpus, 1848er-Revolution: Duplizität der Ereignisse in Mommsens Vita. Hier wie dort zeigte er keine Scheu, gegen eine etablierte Mehrheit anzurennen und für seine Überzeugungen auch Hand anzulegen. In beiden Fällen blieb das persönliche Engagement allerdings fruchtlos, weil der Reformwille der Machthaber ausblieb. Vor allem aber weigerte Mommsen sich jeweils, gleich nach der ersten Niederlage die Flinte ins Korn zu werfen. Denn während andere liberale Professoren nach dem endgültigen Scheitern der 1848er-Revolution den Weg in die „innere Emigration“ des Wissenschaftlers gingen und ihre politischen Ambitionen aufgaben, blieb Mommsen seinem Selbstverständnis nach ein politischer Professor. Und was Wissenschaft und Inschriftensammlung anbelangte, so hatte er diese nach der Ablehnung seiner Pläne ja lange Zeit als Ein-Mann-Unternehmen in Italien fortgesetzt, ohne sichere Gewähr dafür zu haben, dass sich der Wind einmal drehen würde.

1852 kamen für den Wissenschaftler Mommsen endlich bessere Zeiten. Die „Lateinischen Inschriften des Königreichs Neapel“ gingen in Druck. Nachdem die Berliner Akademie ob ihrer Differenzen mit Mommsen noch einmal gegen ihn nachgetreten und den Druckkostenzuschuss verringert hatte, war das Erscheinen nur wegen der Risikobereitschaft des Verlegers möglich. Zeit seines Lebens wusste Mommsen, wem er für die Veröffentlichung Dank schuldete: dem „tapferen und gemeinnützigen Buchhändler“.3 Die Veröffentlichung der neapolitanischen Inschriften war indes die entscheidende Wende. „Sie zeigten auch dem blödesten Auge“, schrieb der Kirchenhistoriker Adolf von Harnack, „wie das Inschriftenwerk auszuführen sei“.4

Mit dem Erscheinen der Inschriften war die Zeit reif, einen neuen Versuch für die Initialisierung des Inschriftenunternehmens zu starten. Einfach war dies beileibe nicht. Mommsen Widerstreiter Boeckh ließ sich von den neapolitanischen Inschriften nicht irritieren und leistete weiterhin hinhaltenden Widerstand. Gleichwohl bröckelte Boeckhs Mehrheit. Zu überzeugend waren die Ergebnisse der neapolitanischen Sammlung. Zu bestechend die neue Herangehensweise. Die neapolitanischen Inschriften führten Innovationskraft und Schaffenspotential von Mommsens Idee in einer Nussschale vor. Zu welchen Ergebnissen würde es dann erst führen, wenn man die Kräfte im Großen vereinigte – in einem wissenschaftlichen Unternehmen? Dessen Dimensionen würden den Rahmen des bislang Bekannten sprengen, versprachen aber genau aus diesem Grund wissenschaftlichen Fortschritt. Diesen Perspektiven konnte sich eine Mehrheit in der Akademie nicht auf Dauer verschließen. Geschickt koordinierten Mommsen und seine Fürsprecher sich inner- wie außerhalb der Akademie und wiesen permanent auf die Innovationskraft des Inschriftenunternehmens hin. Ihre Gegner gerieten unter immer stärkeren Rechtfertigungsdruck. Zudem meldeten sich aus Italien die ersten Mitstreiter, die nur zu gerne an der in den Startlöchern stehenden Edition teilnehmen wollten. Schließlich trug die zweijährige Kärrnerarbeit in Neapel endlich Früchte: Mommsen wurde in einer heißumstrittenen Akademiesitzung mit der Edition beauftragt. Das Einzelschaffen war vorüber. Das Unternehmen Corpus Inscriptionum Latinarum (CIL) konnte beginnen.5

Friedrich Wilhelm IV. hatte 1854 auf sechs Jahre zunächst 2.000 Taler jährlich bewilligt. Zu wenig für das CIL. Mommsen ging davon aus, bis zu zwanzig Jahre mit dem Inschriftencorpus beschäftigt zu sein. Tatsächlich wird die Arbeit an dem Corpus bis zum heutigen Tag kontinuierlich fortgesetzt, da es zu einer Vielzahl neuer Inschriftenfunde kam. Dabei gilt weiterhin die Parole, die Inschriften – sofern noch möglich – vor Ort zu untersuchen, um eine hinreichende Quellenkritik zu gewährleisten.6 Weniger Wert legte Mommsen hingegen auf eine umfangreiche Annotierung der Inschriften. Hier ließ er es bei einigen grundlegenden Angaben bewenden. Wichtig war ihm, einen systematisch geordneten Inschriftenfundus aufzubauen, aus dem man im Folgenden schöpfen konnte.

Bis zu Mommsens Tod 1903 wurden 130.000 Inschriften in 15 Bänden publiziert. Diese Erfolge waren nur möglich, weil Mommsen mit dem CIL die akademische Großforschung initialisierte. Es verwundert nicht, dass es dabei zu einer Vielzahl organisatorischer, materieller und wissenschaftlicher Schwierigkeiten kommen musste. „Nur dadurch konnten sie überwunden werden und wurden überwunden, dass es eben kein Privat-, sondern ein akademisches Unternehmen war“7 , sagte Mommsen selbst. Um die Inschriftensammlung organisatorisch zu bewältigen, war er nicht mehr reiner Wissenschaftler, sondern gleichfalls Betriebschef. Zu seinen Aufgaben gehörten nun auch Geldbeschaffung, Einstellung geeigneter Mitarbeiter sowie Koordination von deren Arbeit.

1855 forderte die Akademie in einem Rundschreiben interessierte Wissenschaftler zur Teilnahme an dem CIL auf. Als fähiger Organisator legte Mommsen größten Wert auf die Integration ausländischer Wissenschaftler, um deren Kenntnisse und Verbindungen vor Ort für seine Edition nutzbar zu machen. Für das Gelingen des Unternehmens war dessen Internationalisierung elementar. So weitumfassend wie das römische Reich, so international musste auch das Mitarbeiternetzwerk sein. Mommsen guter Name kam ihm zu Hilfe. Er rief, und alle kamen – so bedeutend war sein Name schon. Aus Italien, Frankreich, Spanien, England und vielen anderen Ländern fanden sich Wissenschaftler zur Teilnahme bereit.8

Für die Geldbeschaffung mussten neue Strategien entwickelt werden, da nicht einmal die Berliner Akademie ein Projekt dieses Ausmaßes stemmen konnte. Bei den notwendigen Verhandlungen mit dem preußischen Staat half es Mommsen, dass er 1857 zunächst auf eine Forschungsprofessur an der Berliner Akademie und 1861 dann auf eine ordentliche Professur an der Friedrich-Wilhelms-Universität berufen worden war, neben Bonn die renommierteste Universität Preußens. Sein Stern als Historiker stieg und stieg, nicht zuletzt wegen seiner 1854-1856 verfassten „Römischen Geschichte“: Im Fokus des Werkes, das sich an ein allgemeines Publikum richtete, steht die späte Republik. Cäsar, das Genie, dient dem Fortschritt, weil er erkennt, dass die Zeit für eine Ablösung der überkommenen Senatsherrschaft reif ist.9 Das Scheitern der 1848er-Revolution wird durch die Glorifizierung Cäsars literarisch kompensiert. Dies alles legte Mommsen dem staunenden Publikum nicht in drögen wissenschaftlichen Reflektionen dar, sondern in einem lebhaften, ja geradezu journalistischen Schreibstil. Das Buch wurde ein großer Publikumserfolg und begründete den Ruhm des Autors. Ausdruck fand dies in der Verleihung des Literaturnobelpreises 1902.

Das so gewonnene Prestige bei erfolgreichen Verhandlungen mit dem Staat einzusetzen, scheute Mommsen sich nicht. Mittlerweile konnte er es sich sogar leisten, mit einem Weggang zu drohen. Mehr als einmal kam es zu derlei Bleibeverhandlungen, die einzig dem Zweck dienten, die finanzielle Situation des Unternehmens zu verbessern. Neben der direkten finanziellen Unterstützung durch den Staat sorgte Mommsen für weitere Finanzspritzen. Dies galt erst recht, als die Effektivität der Großorganisation offenbar wurde und Mommsen weitere Unternehmungen nach der gleichen Machart aufzog. Zu den neuen Methoden der Geldbeschaffung zählte es beispielsweise, die Reichsadministration zur kompletten Übernahme dieser Wissenschaftsunternehmen zu bewegen. Weiterhin führte aber auch eine deutlich gesteigerte Kooperation in- und ausländischer Akademien zu verbesserter Ressourcenallokation. Unnötige Mehrfacharbeit konnte dadurch effizienter als bislang bekämpft werden.10 Bei Organisation und Geldbeschaffung half es Mommsen, dass er gute Kontakte in das zuständige Ministerium besaß. Zudem war er aber auch Mitglied in unzähligen wissenschaftlichen Kommissionen aller Art und so stets bestens informiert.

Der erste Band des CIL erschien 1863. Das Inschriftenunternehmen hielt sein Versprechen: Es verbesserte die Kenntnisse der römischen Geschichte in vielerlei Hinsicht. Dieser Wissenszuwachs betraf alle Aspekte des römischen Lebens: politische, militärische, soziale, wirtschaftliche etc. Nichts entging Mommsen und seinen Mitstreitern. Nichts war uninteressant. Alles konnte von Bedeutung sein. Die Bedeutung erwuchs dabei nicht nur der einzelnen Inschrift als solcher, denn auf die Detailforschung aufbauend ließen sich im Vergleich übergeordnete Zusammenhänge erschließen.11 Die Methode hatte sich bestens bewährt. Das Unternehmen leistete ganze Arbeit.

Mit dem CIL revolutionierte Mommsen die Altertumswissenschaft aber auch noch in einer anderen Hinsicht. Wissenschaft war nun nicht mehr das Werk eines Einzelnen, sondern das arbeitsteilige Werk eines Unternehmens. Diese Neuerung war Mommsen bewusst: „Wir dürfen hier das Verdienst in Anspruch nehmen, dass wir nicht auf den Lorbeeren einer älteren Generation ruhen, sondern in frischem Schaffen fortfahren, auch wenn wir dabei unser altes Haus selber einreißen müssen.“12 Gleichwohl war die neue Arbeitsweise nicht immer freudvoll: „Die Wissenschaft […] schreitet unaufhaltsam und gewaltig vorwärts; aber dem emporsteigenden Riesenbau gegenüber erscheint der Arbeiter immer kleiner und geringer.“13 Durch die Arbeitsteilung konnte dem einzelnen „Wissenschaftsarbeiter“ rasch der Blick auf das „große Ganze“ entgehen. Auch wegen der Langfristigkeit der Unternehmung schwand die Bedeutung des Einzelnen. Man arbeitete einige Zeit für Mommsen, trat irgendwann aus seinen Diensten und wurde durch einen Nachfolger abgelöst. Gerade das hatte Mommsen aber gewollt: „Die Organisierung der Arbeit, sei es durch Sammlung der Materialien oder der Resultate, sei es durch Schulung der hinzutretenden Arbeitsgenossen, nimmt immer weiteren Umfang an und fordert vor allem jene Stabilität der Einrichtungen, die über die Lebensdauer des einzelnen Mannes hinaus den Fortgang der Arbeit verbürgen.“14

Und sollte man die nunmehr erprobte wissenschaftliche Großorganisation nicht auch für andere Projekte fruchtbar machen können? Der Erkenntniszuwachs war so durchschlagend, dass es geradezu auf der Hand lag, dem Referenzmodell CIL weitere Unternehmen folgen zu lassen, so z.B. die Prosopographie der römischen Kaiserzeit, die Kommission für Numismatik, die Erforschung des Obergermanisch-Raetischen Limes oder ein Wörterbuch der römischen Rechtsgeschichte.15 Auch dort folgte Mommsen dem für die Altertumswissenschaft neuen Totalitätsideal, nach dem sich die Wissenschaft nicht mehr allein auf die textlichen Überlieferungen zu beschränken, sondern alle Hinterlassenschaften der Antike in den Blick zu nehmen hatte, um antikes Leben umfassend zu erforschen. Ziel war die vollständige Historisierung des Altertums.

Der Preis für Arbeitsteilung und vollständige Historisierung war aber die „Entfremdung“ des Wissenschaftsarbeiters von der Geschichte, da jeder nur noch seinen hochspezialisierten Arbeitsbereich bearbeitete. Insofern liegt eine gewisse Paradoxie darin, dass das Totalitätsideal zwar für einen Modernisierungsschub sorgte, durch die nachfolgende Zersplitterung der Wissenschaft in verschiedene Unterdisziplinen aber wiederum der durch das Totalitätsideal angestrebte umfassende Blick auf das Leben schwand. Diese Entfremdung wurde schon von Zeitgenossen wie Burckhardt oder Nietzsche kritisiert. Auch Johann Gustav Droysen beklagte sich über die „Fabrikarbeit“, welche die an den Unternehmen Beteiligten leisten mussten. Indes, Mommsen ließ sich davon nicht beirren. Zu groß waren die Erfolge. Die Spezialisierung war für ihn schlicht der Preis, den der Wissenschaftler dafür zahlen musste. Eindrucksvoll bestätigt wurde Mommsen im Übrigen durch die Reaktion fachfremder Wissenschaftler, die sein Organisationsmodell übernahmen. Mittels internationaler wissenschaftlicher Kooperation sollten sich nicht nur im Rahmen der Altertumswissenschaften Erfolge erzielen lassen. Für sämtliche Wissenschaften bis hin zu den Naturwissenschaften wurde das Modell stilprägend.

Angesichts der schieren Stoffmenge, die es für all diese Projekte zu bewältigen galt, kann es nur verwundern, dass Mommsen noch Zeit fand, „en passant“ bahnbrechende Werke wie das „Römische Staatsrecht“ (1871-1888) zu veröffentlichen. Das „Staatsrecht“ erschien von 1871 bis 1888 und füllte über 3.000 Seiten. In diesem Werk präsentiert Mommsen die römische Verfassung über etwa 1.000 Jahre als geschlossenes juristisches System, um so zu deren Wesenskern vordringen zu können. Bis heute ist dieser kühne Wurf die Grundlage der verfassungsgeschichtlichen Forschung, der bislang durch kein anderes Werk adäquat ersetzt werden konnte.16

Selbst für politisches Engagement fand Mommsen noch Zeit. Ein Leben im Elfenbeinturm der Wissenschaft konnte er sich nicht vorstellen. Es zog ihn stattdessen in den 1860er und 1870er Jahren in den preußischen Landtag, von 1881-1884 gar in den Reichstag, wo er sich als waschechter Liberaler und „Altachtundvierziger“ präsentierte. Wie in der Wissenschaft ging Mommsen auch hier keiner Kontroverse aus dem Wege. So schimpfte er auf den „Junker- und Pfaffenstaat“, engagierte sich im „Berliner Antisemitismusstreit“ gegen seinen Kollegen Treitschke und dessen Verdikt „Die Juden sind unser Unglück!“ und verzweifelte am fehlenden Bürgersinn der Deutschen. Auch das Alter bedeutete nicht das Ende von Mommsens politischer Partizipation.17 Exemplarisch dafür steht sein Verhältnis zur Sozialdemokratie, der gegenüber er sich lange Zeit ablehnend verhielt. Noch während seines zweijährigen Italienaufenthalts hatte er für die Armut der Arbeiter keinen Blick gehabt und es vorgezogen, sich stattdessen über den schlechten Erhaltungszustand der Inschriften zu echauffieren.18 Doch kurz vor seinem Tod vollzog er öffentlich einen Paradigmenwechsel und warf sein Renommee für eine sozialliberale Koalition in die Waagschale. Um einen politischen Strauß auszufechten, musste Mommsen nicht im Parlament sitzen.

Ermöglicht wurde diese immense Produktivität durch ein schon zu seinen Lebzeiten unter Zeitgenossen legendäres Arbeitspensum. Mommsen war schlicht der „Kärrner“ – also derjenige, der die entbehrungsreiche Arbeit eines Fuhrmanns verrichtete. Im Falle Mommsen wäre es vielleicht angebrachter zu sagen: derjenige, der den Karren gleich selbst zog. Mit Mußestunden wusste Mommsen wenig anzufangen. Lieber füllte er sie damit, seinen wissenschaftlichen Forschungen oder politischen Projekten nachzuhängen. Es wundert nicht, dass unter diesen Voraussetzungen für seine 16 Kinder – zwei davon starben im Säuglingsalter – wenig Zeit blieb.

Dem CIL blieb er bis zu seinem Tod 1903 treu. Untreu wurde Mommsen hingegen seinem Ideal, auch wissenschaftliche Großunternehmen so zu konzipieren, dass sie noch zu Lebzeiten abgeschlossen werden konnten. Angesichts permanenter Neufunde von Inschriften war das ein Ding der Unmöglichkeit geworden. Die Gesamtzahl römischer Inschriften wird derzeit auf rund 400.000 geschätzt.19 Im Inschriftencorpus publiziert sind davon rund 180.00020 , und es ist noch lange nicht Schluss: Die Gelder für das CIL sind bis 2053 bewilligt. Federführend tätig ist immer noch die Akademie der Wissenschaften in Berlin. So tragfähig erwiesen sich die von Mommsen begründeten Strukturen, dass sie von den Nachfolgegenerationen übernommen werden konnten. Das Unternehmen überlebte seinen Gründer und arbeitet noch immer.


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