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„Ein Leben voller Arbeit und Mühe ist keine Last, sondern eine Wohltat.“ Rudolf Virchow (1821–1902)
Оглавлениеvon Henriette Schulz
1856 gründete Gustav Langenscheidt seinen bis heute weltweit bekannten Verlag, Werner von Siemens erfand den Doppel-T-Anker für den elektrischen Dynamo und schuf so die Grundlage der industriellen Stromproduktion, Heinrich Heine starb in Paris – und Rudolph Virchow hielt in Würzburg seine letzte Vorlesung als Professor für pathologische Anatomie. Einige Monate später sollte er nach Berlin zurückkehren, in die Stadt, die ihn sieben Jahre zuvor als unliebsamen Rebellen am liebsten in der Spree versenkt hätte.
Der Hörsaal in Würzburg applaudierte und jubelte, nachdem Rudolph Virchow mit seinen Ausführungen über die pathologische Gewebelehre geendet hatte. Die Schar der Zuhörer war von Woche zu Woche gewachsen und Ernst Haeckel, Assistent des Professors, hatte arge Bedenken, dass die Beschaffenheit des Raumes den Massen an Menschen nicht mehr lange Stand halten würde. Diese Befürchtung hegte er schon, seit er Virchows Vorlesung das erste Mal 1853 besucht hatte.39 Während Haeckel die sorgsam gehüteten Materialien des Mediziners zusammensammelte und die Fragen der neugierigen Studenten abwimmelte, dachte er an das bevorstehende Abschiedsessen im „Englischen Garten“ und die Dinge, die noch zu erledigen waren. Virchow wollte fast alle seine Kollegen einladen und sein Assistent hatte alle Hände voll zu tun: Tische mussten zusätzlich organisiert werden, der Koch brauchte neue Instruktionen und weitere Räume mussten gefunden werden, falls es in den Abendstunden zu kühl sein würde, um im Freien zu speisen.
Sein „Meister“ war ein Forschertyp par excellence. Lachen sah man ihn selten. Stattdessen befasste sich sein scharfer und klarer Verstand beinahe immerzu mit neuen Forschungsfragen. Leicht gewann man den Eindruck, dass sein sturer Enthusiasmus für eine Sache beinahe schon zwanghaft war. Aber genau aus diesem Grund hatte man ihn ja an die Würzburger Universität geholt. Man wollte von seiner „Genialität an Auffassung“ und seiner „gediegenen Gelehrsamkeit“ profitieren. Dies hatte man zwar nie offen ausgesprochen, aber Haeckel kannte die Absicht der Universität. Mit einem Arzt, der bereits in der kurzen Zeit seiner Karriere so deutlich für seine Ziele eingetreten war, konnte man einen „beträchtlichen Zuwachs von Lehrkraft und Talent“40 erwarten. Haeckel erinnerte sich gut, dass Virchow diesem Ruf damals nur zu gern gefolgt war. Nicht immer war Virchow so hochgelobt worden. Seine Stellung in Berlin, wo er zuvor tätig gewesen war, wurde für ihn aufgrund politischer Querelen unhaltbar. Er hatte sich mit seinen Unternehmungen für eine soziale Reform ein wenig zu weit aus dem Fenster gelehnt.
Ein Sprung zurück: Nach Beendigung seines Studiums an der Berliner militärärztlichen Bildungsanstalt 1847 wurde der junge Arzt von der Preußischen Regierung beauftragt, die Ursachen einer Flecktyphusepidemie in Oberschlesien zu untersuchen. Bereits während seiner Ausbildung an der Akademie hatte er die alteingesessenen Militärärzten ein ums andere Mal gehörig vor den Kopf gestoßen. In Briefen an seinen Vater beklagte sich Virchow, da seiner Meinung nach „nichts ordentlich untersucht ist, alles muss man selbst und von vornher wieder selbst durcharbeiten, und das ist so viel, dass man manchmal wirklich den Mut verliert“.41 Haeckel erinnerte sich auch an eine Anekdote, von der ihm der Arzt immer wieder erzählt hatte. Bei der Geburtstagsfeier des Gründers des Friedrich-Wilhelms-Institut 1845 hielt Virchow eine flammende Rede „Über das Bedürfnis und die Richtigkeit einer Medicin vom mechanistischen Standpunkt“ und löste damit eine kleine Revolution aus. Es sei eine ungeheuerliche Anmaßung gewesen, dass sich ein so junger und unerfahrener Arzt gegen die vorherrschende Naturphilosophie Schellings und Hegels42 stellte. Virchow vertrat selbstbewusst seine Ansichten einer Medizin auf der Grundlage von Mechanik und Physik, was zwar eine interessante Innovation war, jedoch damals auf wenig Gegenliebe stieß. Seiner wissenschaftlichen Karriere konnte das noch keinen Schaden zufügen, auch weil Virchow sich gerade mit der Herausgabe des „Archivs für pathologische Anatomie und Physiologie und für klinische Medizin“ einen Namen gemacht hatte.
Nach der Beauftragung durch die preußische Regierung packte er umgehend seine Sachen, um sich auf den Weg zu machen. In Oberschlesien wurde er alsdann mit der „Sozialen Frage“ konfrontiert. Überall sah er die Folgen von Volkselend und ausbeuterischen Arbeitbedingungen in den Fabriken. Ganze Familien konnten ihre Kinder nicht ernähren, Krankheiten entwickelten sich zu Seuchen. Doch aus der Sicht Preußens gehörte dies zum normalen Lauf der Industrialisierung, den man weder aufhalten wollte noch konnte. Virchow, der sehr neugierig auf die Erfahrung in Oberschlesien gewesen war, war schockiert. Das erlebte Elend machte ihn wütend. Irgendwer musste für die Menschen dort doch eintreten. In seinem abschließenden Bericht legte er der Regierung eine „volle und unumschränkte Demokratie“ sowie „Bildung mit ihren Töchtern Freiheit und Wohlstand“ ans Herz, da dies seiner Meinung nach der einzige Ausweg aus der gesellschaftlich verschuldeten Krankheit des Volkes sei. Virchow charakterisierte die Epidemie in Oberschlesien als künstliche Seuche, geschaffen durch die gesellschaftlichen Umstände, an denen die Regierung ihre Mitschuld trage.43 Dies war eine ungeheuerliche Anschuldigung zum damaligen Zeitpunkt und dann auch noch durch einen von der Regierung beauftragten Arzt. Es war eine höchst explosive Behauptung, die Virchow da vorbrachte. Wie konnte ein Angestellter des Preußischen Staates so unverfroren in die Hand beißen, die ihn eigentlich füttern wollte? Doch wirklich ernst genommen wurden seine Schlussfolgerungen aus der Untersuchung der Epidemie nicht. Zudem konnte man auch gar nicht „angemessen“ reagieren, da in Berlin bereits ganz andere Dinge drunter und drüber gingen. Kaum war Virchow nach Berlin zurückgekehrt, wurde er sofort von den Ereignissen um die Märzrevolution aufgesogen, die bereits seit dem 6. März 1848 in Berlin brodelten.
Doch die Forderungen nach einem einheitlichen, parlamentarischen Nationalstaat als auch der Lösung der Sozialen Frage ließen Virchow gerade nach den Erlebnissen in Oberschlesien nicht unberührt. Er ging selbst auf die Barrikaden und schlug sich auf die Seite der radikalen Linken. Im Zuge dieser Verwicklungen wurde für Virchow die Forderung nach einer Lösung der sozialen Missstände und der Beginn eines „sozialen Zeitalters“ immer wichtiger. In seiner eigenen Wochenzeitschrift „Die medicinische Reform“, die er zusammen mit dem befreundeten Psychiater Rudolf Leubuscher kurze Zeit herausgab, forderte er u.a. eine einheitliche medizinische Gesetzgebung, ein Reichsministerium für die öffentliche Gesundheitspflege und eine radikale Reform des Gesundheitswesens. Sein anfänglich ausschließlich medizinisches Glaubensbekenntnis ging immer stärker in seinen politischen und sozialen Überzeugungen auf. „Wer kann sich darüber wundern, dass die Demokratie und der Sozialismus nirgend mehr Anhänger finden, als unter den Aerzten? Dass überall auf der äussersten Linken, zum Theil an der Spitze der Bewegung, Aerzte stehen? Die Medicin ist eine sociale Wissenschaft, und die Politik ist weiter nichts, als Medicin im Grossen.“44 Virchow kämpfte für seine Ideen und er fand eine Vielzahl von Mitstreitern, die er im Laufe der Zeit immer und immer wieder motivieren konnte, sich auf seine Seite zu schlagen und seinem „sozialen Zeitalter“ anzuschließen. Trotz allem Enthusiasmus erwiesen sich seine ersten politischen Unternehmungen jedoch zunächst als Fehlschläge und Virchow, bereits unbeliebt durch seinen Oberschlesien-Report, hatte nun den Bogen gehörig überspannt. Das hauptstädtische Pflaster wurde ihm entschieden zu heiß. Man hatte ihm bereits sein Amt als Prosektor an der Charité45 entzogen und so nahm er dankbar den Ruf an die Universität in Würzburg an.
Auch sein Beginn in Würzburg, Haeckel konnte sich nur zu gut daran erinnern, war nicht ganz so einfach, wie erwartet. Als er im November 1849 seine Arbeit am Juliusspital aufnahm, war sein Ruf ihm bereits vorausgeeilt und man beäugte den Rebellen aus Berlin äußerst kritisch. Bevor man ihn anstellte, musste er versichern, dass er „bei sich etwa ergebener Gelegenheit nicht auch Würzburg zum Tummelplatz seiner früheren kundgebenden radikalen Tendenzen“46 machen würde. Virchow gelobte keine radikalen oder revolutionären Ausbrüche, sondern versprach: „Ich habe keine Absichten, Politiker der Profession zu werden. – Bis jetzt habe ich keinen politischen Ehrgeiz“.47
In seinen „sieben fetten Jahren“ in Würzburg schuf Virchow den größten Teil seines gesamten medizinischen Vermächtnisses. Er gab 1851 die „Jahresberichte über die Leistungen und Fortschritte der gesammten Medicin“ heraus, sowie vier Jahre später das „Handbuch der speciellen Pathologie und Therapie“, welches die Grundidee der modernen Medizin prägte, dass Krankheiten allein auf der Störung von Körperzellen basieren und Zellen somit die kleinsten autonomen Einheiten des gesunden und kranken Lebens sind. Sein medizinisches Werk war vollbracht. Die Jahre in Würzburg hatten ihn zu einem allseits anerkannten Pathologen und Professoren mit einem hoch angesehenen Kollegium gemacht. Seine Studenten verehrten ihn für seinen Forschergeist und seine modernen politischen Auffassungen, die er natürlich auch weiterhin nicht verschwieg, wenn er sie auch nicht so offen zu Schau trug, wie in Berlin. Nur hin und wieder ließ er sich noch zu kleinen politischen Spitzen hinreißen. In Haeckels Augen wurde er zum Prototyp eines objektiven, sachlichen und nüchternen Wissenschaftlers. In einem Brief an seine Eltern schrieb der Assistent: „Kann Virchow wohl je so eines entzückenden Genusses sich erfreuen wie ich ihn so oft in meiner subjektiven Naturbetrachtung, sei es einer schönen Landschaft oder eines allerliebsten Tierchens oder einer niedlichen Pflanze genießen? Sicher nicht! Auch müsste es schrecklich auf der Welt sein, wenn alle Männer so nüchtern und verständig wären […].“48 Auch an die Verbohrtheit und die stoische Gelassenheit, mit der sich Virchow der Dinge annahm, konnte sich Haeckel nur zu gut erinnern. Schließlich widersprach dieser Wesenszug des Professors seinem eigenen von Grund auf. Vermutlich wurden sie deshalb auch nie richtig warm miteinander. Dennoch hoffte Haeckel, dass eben diese Eigenschaften des Arztes irgendwann auch auf sein eigenes hitziges, unruhiges und emotionales Gemüt abfärben würden. „Alles sieht er so fabelhaft ruhig, ungerührt und objektiv passiv an, daß ich seine [Virchows] außerordentliche stoische Ruhe und Kaltblütigkeit täglich mehr bewundern lerne und bald ebenso hoch schätzen werde wie die außerordentlich klare Schärfe seines Geistes und den Überfluß seines Wissens. Wenn er meinem überschäumenden Sprudelgeist nur etwas abgeben könnte.“49 Und obwohl Haeckel Virchows Distanz und Gefühlskälte immer sehr bedauerte und in seinen Briefen auch oft kritisierte, lobte er vor jedermann die „göttliche Ruhe, seine Kälte und Konstanz mit der er [Virchow], immer gleich bleibend, alle Dinge höchst objektiv und klar auffasste.50 Gerühmt wurde er außerdem von seinen Studenten für seine Gradlinigkeit und seine Fähigkeit, Kritik an seiner Person zu respektieren.
1856 bat man ihn, an die Charité in Berlin zurückzukehren. Man wollte dem rebellischen Arzt von damals eine weitere Chance geben, nun, da er einiges an Bekanntheit erlangt hatte. Außerdem war die Revolution von 1848 jetzt eine geschlossene Akte. Die Monarchie war wieder gefestigt und man war sich sicher, dass Virchow sich seine revolutionären Hörner endlich abgestoßen hatte. Zu diesem Zweck schuf man ihm und seinen Mitarbeitern ein eigenes Pathologisches Institut an der Charité. Bereits zwei Jahre später konnte er vor den Berliner Ärzten seine Vorlesung über „Die Cellularpathologie in ihrer Begründung auf physiologischer und pathologischer Gewebelehre“ halten, aus welcher noch im selben Jahr sein weltbekanntes Werk: „Die Cellularpathologie“ hervorging. Mit diesem innovativen Konzept prägte er eine vollkommen neue Krankheitslehre. Zudem war der sture Arzt ein leidenschaftlicher Sammler pathologischanatomischer Präparate. Virchow bezeichnete sie als sein „liebstes Kind“, denn für ihn waren sie eine Dokumentation des erreichten Wissensstandes seines Fachgebietes. Inspiriert durch britische Ärzte, die ebenfalls medizinische Präparate sammelten, wollte er seine Sammlung vergrößern und ausbauen, um sie später auch der Öffentlichkeit vorführen zu können. Sein aufklärerischer Gedanke hinter dieser Anhäufung von Feucht- und Trockenpräparaten war so einfach wie einleuchtend: Er wollte der breiten Bevölkerung das Wissen und Verständnis um Gesundheit und Krankheit anschaulich machen, denn dies war in seinen Augen ein wesentlicher Bestandteil der menschlichen Kultur. Heute ist das eine der natürlichsten Vorstellungen der Welt. Zu Virchows Zeiten war die Verbreitung von Wissen innerhalb der ungebildeten und unterprivilegierten Öffentlichkeit jedoch ein Novum. Wissen stand bis dato nur den Bevölkerungsschichten zu Verfügung, die es sich leisten konnten, Universitäten zu besuchen. Die Fabrikarbeiter aus Oberschlesien zählten nicht dazu.
Die anfängliche Sammlung der Charité bestand aus 1.500 Objekten und reichte Virchow bei weitem nicht aus. Sein erklärtes Ziel war es, jede damals bekannte Krankheit mit einem charakteristischen Präparat darzustellen. So wuchs die Sammlung innerhalb von rund 30 Jahren auf 19.000 Präparate an. Virchow, überzeugt von der Notwenigkeit dieser Sammlung, ersuchte um den Bau eines eigenen Museums für seinen Schatz und fand erstaunlich schnell Zustimmung. Bereits 1899 weihte er sein Museum an der Charité ein. Auf fünf verschiedenen Etagen drängten sich fast 21.000 Präparate dicht an dicht. Lange nach Virchows Tod und kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges war die Präparatensammlung auf 26.000 Exemplare angewachsen. Durch zahlreiche Bombenschäden und einen Dachstuhlbrand in den 1950er Jahren wurde die Sammlung medizinischer Präparate jedoch so stark dezimiert, dass man heute nur noch 750 Objekte zeigen kann.
Überhaupt war Virchow ein großer Freund und Förderer von Museen. Seiner engen Freundschaft zu Schliemann ist es zu verdanken, dass dieser seine trojanische Sammlung dem Berliner Völkerkundemuseum schenkte. An dessen Gründung war Virchow 1886 zusammen mit Adolf Bastian, einem Kollegen aus der Berliner Gesellschaft für Anthropologie beteiligt. Das Museum gehört mit seinen über 500.000 Exponaten zu den weltweit bedeutendsten, größten und ältesten Völkerkundemuseen.
Auf den erworbenen Lorbeeren wollte sich Virchow jedoch nicht ausruhen, sondern nahm gleich sein nächstes Ziel in Angriff. Er hatte die „soziale Frage“, die ihn schon zu Beginn seines politischen Wirkens nicht in Ruhe gelassen hatte, nie aus den Augen verloren und gedachte nun, mit neuem Ansehen und stärkerem Rückhalt, erneut einen Vorstoß für eine medizinische Grundversorgung der Bevölkerung zu wagen. Im Juli 1859 ließ er sich in den Berliner Stadtrat wählen, um noch einmal seinen politischen Ansichten Gehör zu verleihen. Sein unermüdliches Streben galt vor allem der Einführung einer öffentlichen Gesundheitspflege. Auch im Kampf um die preußische Verfassung wirkte er entscheidend mit. So gründete er 1861 mit u.a. Theodor Mommsen, Paul Langerhans und Franz Duncker die Deutsche Fortschrittspartei und sah sich fortan als Opposition zu Otto von Bismarck. Konflikte waren in dieser Konstellation vorprogrammiert, denn der eigensinnige Arzt wollte seinen Kurs für das gesellschaftliche Gemeinwohl und für soziale Verantwortung nicht aufgeben. Schon am 2. Juni 1865 brachte ihn sein ungestümer Geist erneut in arge Bedrängnis. In einer Debatte im Preußischen Landtag verglich er Bismarcks Politik mit einem Schiff, dass von allerlei Winden in verschiedenste Richtungen gedrängt werde und zweifelte an der Wahrheitsliebe des Kanzlers.51 Das brachte das Fass für diesen zum Überlaufen. Bismarck forderte Virchow zum Duell heraus. Dank des beherzten Vermittelns durch den Kriegsminister von Roon konnte dieses jedoch mit Müh und Not verhindert werden.
Dennoch blieb Virchow weiter in seiner oppositionellen Rolle und verlieh seinen unnachgiebigen Forderungen beständig Ausdruck. Ihm ging die kriegerische Politik Bismarcks und das Bestreben ständig weitere Kolonien zu erwerben gehörig gegen den Strich. Als einer der wenigen Politiker dieser Zeit war er der Ansicht, dass man zuerst dem eigenen Volk helfen müsse und scheute auch nicht davor zurück, seine Anhänger und Bewunderer für dieses Ziel zu mobilisieren. So setze er sich für die Abrüstung des Reiches zugunsten eines Ausbaus des Verkehrsnetzes, zusätzlicher Kanalbauten und stärkerer Investitionen ins Hochschulwesen ein. 1874 verfasste er den Generalbericht über die Berliner Kanalisation mit dem Resultat, dass bereits drei Jahre später der erste Abschnitt eines neuen Kanalsystems fertig gestellt wurde. Berlin wurde, durch Virchows Beharrlichkeit, die erste europäische Großstadt mit einer Kanalisation mit Rieselfeldern. Es war ein Erfolg für Virchows politische Karriere. Dadurch beflügelt und dem Drängen seiner Freunde nachgebend, ließ sich Virchow 1880 in den Reichstag wählen, obwohl ihm diese „Scheininstitution“ gar nicht gefiel. Viel sinnvoller erschien ihm hingegen der Posten als Vorsitzender der Rechnungskommission des Preußischen Landtags, da er hier eine gewisse Kontrolle über das Parlament ausüben konnte.
Rückblickend betrachtet war seine politische Karriere jedoch bei weitem nicht so erfolgsgekrönt, wie seine medizinische Laufbahn. Dennoch verdankt man ihm, neben dem Ausbau des Kanalsystems, einige wichtige Errungenschaften im Gesundheitswesen der Stadt Berlin. So konnten freie medizinische Behandlungen von Bedürftigen etabliert werden, Versicherungen gegen Invalidität wurden eingeführt, die Städtesanierungen und der Bau von Krankenhäusern vorangetrieben sowie die Schulhygiene verbessert.
Man könnte meinen, eine Vielzahl solcher Unternehmungen auf zwei Gebieten voranzutreiben, sei ausreichend, um sich mit seinem Lebenswerk zur Ruhe zu setzen. Doch Virchow, unruhiger Geist, der er war, begann sich bald ein weiteres Feld zu suchen. Auf dem Gebieten der Kulturgeschichte leistete er weitere wertvolle Beiträge. Neben der Etablierung der Anthropologie als neues Forschungsgebiet untersuchte er die Geschichte der Menschheit und den „Ursprung der Rassen“ – einem Ende des 19. Jahrhunderts populären Thema, das noch nicht die politischen Implikationen in sich trug, die es dann seit Beginn des 20. Jahrhunderts in Form nationalistischer Rassenlehren haben sollte. Bereits 1876 veranlasste Virchow eine Untersuchung deutscher Schulkinder hinsichtlich ihrer Haarfarbe, Augenfarbe und der Hautfarbe. Er kam schnell zu dem Ergebnis, dass sich Nationalität immer aus verschiedensten Charakteristika unterschiedlicher Rassen zusammensetzt und es nie eine reine Rasse geben wird.52 .
Am 5. September 1902 verstarb Virchow in Berlin. Er war in der Leipziger Straße etwas zu übermütig von einer fahrenden Straßenbahn abgesprungen und hatte sich dabei den Oberschenkelknochen gebrochen. Von dieser Fraktur erholte sich der alte Mann nicht mehr.