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1.2 Der spiritualistische Kurzschluss
ОглавлениеEs ist kein Zufall, hat dieses Liturgieverständnis im Kontext der evangelischen Kirche eine gewisse Attraktivität erlangt. Im Unterschied etwa zum römisch-katholischen Ritus kennt die Kirchenbuchtradition keinen bestimmten Wortlaut, der für den Gottesdienst bindend vorgeschrieben wäre. Die Gebete werden frei gebetet und sind nicht gebunden. Die Liturgie wird zwar pragmatisch als Ordnung verstanden, ist aber nur syntaktisch festgelegt und wird semantisch offen gehalten. Die Affinität der freien Liturgie zur expressiven Konzeption des liturgischen Handelns ist offenkundig.9 Sie wurde insbesondere in der reformierten Liturgik geisttheologisch begründet. Um es mit einem locus classicus und Lieblingsbeleg von Zwingli zu sagen: Gott ist Geist und der Geist ist frei.10
Wir können diese Verknüpfung sowohl liturgiehistorisch als auch liturgietheologisch nachvollziehen, wollen aber dennoch den spiritualistischen Kurzschluss nicht übersehen, der hier insbesondere in der reformierten Liturgik droht. Es ist die Irrlehre, dass der Geist Gottes sich nicht mit Zeichen verbinden und durch Formen wirken kann. Wenn es im Gottesdienst tatsächlich darum geht, den Glauben im Medium biblischer und kirchlicher Überlieferung symbolisch zu kommunizieren, ist die Freiheit der liturgischen Sprache keine unbegrenzte Freiheit und vice versa tut der Freiheit Gottes die Selbstmitteilung durch Zeichen keinen Abbruch. Nicht Gott bindet sich an Zeichen, sondern die Zeichen vermitteln Gott |14| in verbindlicher Weise. Nicht die Zeichen sind heilig, geheiligt ist ihr Gebrauch. So sagt es die reformierte Lehre:
Heiligen und weihen heißt, ein Ding Gott widmen und heiligen Bräuchen, das heißt, es vom gewöhnlichen und weltlichen absondern und zum heiligen Gebrauch bestimmen. Die Zeichen bei den Sakramenten sind nämlich dem gewöhnlichen Gebrauch entnommen. […] Deshalb sind Wasser, Brot und Wein ihrer Natur nach und außerhalb der göttlichen Einsetzung und dem heiligen Gebrauch immer das, was ihr Name besagt und als was wir sie gewöhnlich empfinden. Wenn aber das Wort des Herrn dazukommt, unter Anrufung des Namens Gottes, mit der Wiederholung der ersten Einsetzung und der ersten Weihe, so werden diese Zeichen geweiht und als von Christus geheiligt erwiesen.11
Eine doppelte Intention wird aus diesen Zeilen erkennbar; die Unterscheidung zwischen Gott und Zeichen und die Unterscheidung zwischen den geheiligten und weltlichen Dingen und Bräuchen. Wir meinen deshalb, dass man die Pointe der reformierten Gottesdiensttheologie verkennt, wenn man die geisttheologische Begründung der Gestaltungsfreiheit auf ihre kritische Intention reduziert und sie von ihrer konstruktiven Intention, den semiotischen Überschuss zu wahren, abkoppelt. Gott ist mehr als Zeichen mitteilen können. Darum ist das gottesdienstliche Geschehen auch nicht hinreichend erfasst, wenn man die christliche Erfahrung nur mit dem Medium der kirchlichen Überlieferung, nicht aber mit Gott selbst in Verbindung bringt. Denn – mit Elazar Benyoëtz – wir richten nicht unsere Gebete an Gott; wir richten uns an Gott mit unseren Gebeten.