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Klinik, Heim, Maßregelvollzug: in der Psychiatrie

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Die vor der Psychiatriereform dominierenden, mehr oder weniger isoliert arbeitenden Großanstalten wurden in den letzten Jahrzehnten bautechnisch modernisiert und verkleinert; zahlreiche psychiatrische Abteilungen an Allgemeinkrankenhäusern entstanden. In jeder Region ist mittlerweile eine Klinik beauftragt, den gesetzlichen Versorgungsauftrag – die Pflichtversorgung – sicherzustellen. Derzeit existieren in Deutschland etwa 219 psychiatrische Kliniken und 232 psychiatrische Fachabteilungen an Allgemeinkrankenhäusern. Dazu kommen noch 199 psychosomatische und 174 kinder- und jugendpsychiatrische Kliniken bzw. Fachabteilungen. Insgesamt umfassen diese Einrichtungen mehr als 79.000 Betten – in den 1970er Jahren waren es etwa 99.000 psychiatrische Betten in Westdeutschland (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 3ff., Deutscher Bundestag 1975: 2). Anders als früher sind die Kliniken heutzutage vorwiegend für die Akutbehandlung zuständig, längerfristige Aufenthalte sollen vermieden werden. Da parallel zur moderat gesunkenen Bettenzahl die durchschnittliche Liegezeit von etwa 180 auf 20 bis 40 Tage stark reduziert wurde, ist die Gesamtzahl der ›Fälle‹ – also der in den Kliniken aufgenommenen Menschen – nicht gesunken. Seit 1994 hat die Fallzahl sogar um ca. 46% zugenommen. Zugleich ist die Wiederaufnahmerate gestiegen, also die Rate mehrfacher Klinikaufenthalte pro Person: hier zeigt sich der vielbeklagte ›Drehtüreffekt‹ (vgl. Schneider/Falkai/ Maier 2011: 3ff.). Die Zahl der Zwangseinweisungen ist zwischen 2000 und 2011 von jährlich über 90.000 auf über 130.000, nach anderen Quellen sogar auf über 230.000 gestiegen – in anderen europäischen Ländern werden relativ zur Bevölkerung weitaus weniger Menschen eingewiesen.5 Anträge auf Einweisungen werden von den Gerichten in 99% der Fälle positiv beschieden. Überdurchschnittlich häufig eingewiesen werden Menschen aus niedrigen sozialen Schichten, alte Menschen und Personen mit einer sogenannten Behinderung (vgl. Joeres 2011) – auch Migrant_innen werden häufiger eingewiesen (vgl. Machleidt et al. 2007, Hoffmann 2009).

Im Zuge der Psychiatriereform wurden die Kliniken infrastrukturell und fachlich modernisiert und nach Bevölkerungsgruppen und Diagnosen ausdifferenzierte Behandlungsformen geschaffen. Multidisziplinäre Teams entstanden, vermehrt wurden sozialarbeiterische und psychologisch-therapeutische Techniken in den klinischen Prozess einbezogen. Zudem wurden Gesetze und Fachstandards zur Regulierung der Zwangsbehandlung geschaffen, weiterhin wurde jedoch häufig Zwang angewandt. Neben zahlreichen Fixierungen, erzwungenen Begutachtungen, vermitteltem oder direktem Zwang zur Einnahme von Psychopharmaka existieren weitere offen gewaltförmige Therapieformen fort. Dazu zählt etwa die Elektrokrampftherapie, die in den letzten Jahren wieder rehabilitiert wurde und auch von Sozialpsychiater_innen, wie z.B. Klaus Dörner, nicht generell abgelehnt wird (vgl. Wagner-Nagy 2012, Lehmann 1988).

Jenseits der stationären Psychiatrien, die über die Krankenversicherungsbeiträge finanziert werden, werden Psychiatrisierte auch in eigenen Heimen für ›seelische Behinderte‹ stationär untergebracht. 2010 waren davon ca. 49.000 Menschen (2000: ca. 37.000, 1972: ca. 36.000) betroffen (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 30). Zudem werden immer mehr Menschen, die unter gesetzlicher Betreuung stehen, in Obdachlosen- oder Pflegeheime abgeschoben, wo kein therapeutisches Angebot bereitsteht, sondern eine reine Medikamentierung und Verwahrung betrieben wird. Meist haben diese Menschen bereits mehrfache Klinikaufenthalte hinter sich, werden als ›austherapiert‹ oder ›systemsprengend‹ abgestempelt und für Jahre oder Jahrzehnte ohne weitergehende Perspektive im Heim untergebracht. Allein für Berlin werden mehr als 5.000 Heimverwahrte mit einer psychiatrischen Diagnose geschätzt (vgl. Vock et al. 2007: 84). In einem Zeitungsbericht konstatierte ein Berliner Chefarzt 2013: »Inzwischen leben in diesen Heimen mehr Menschen als damals [vor der Psychiatrieform, S.W.] in den großen Anstalten …« (Tramitz 2013)

Zudem findet eine Psychiatrisierung der Delinquenz statt: immer mehr Menschen, die Straftaten begangen haben, aber vor Gericht aufgrund einer ›psychischen Krankheit‹ für schuldunfähig erklärt wurden, werden in den sogenannten Maßregelvollzug eingewiesen. Dort werden sie oft für viele Jahre unter widrigsten Bedingungen eingesperrt und müssen sich einem besonders autoritären psychiatrischen Regime mit sehr hohem Psychopharmaka-Zwang, häufigen Zwangsfixierungen und starken sozialen Reglementierungen unterwerfen. Selbst leichtere Delikte wie Diebstahl oder Fahren ohne Führerschein können mittlerweile zu einer Einweisung in den Maßregelvollzug führen – entsprechend hat sich die Zahl der dort Untergebrachten in den letzten 20 Jahren beinahe verdreifacht.6

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