Читать книгу Gegendiagnose - Группа авторов - Страница 16
Gesetzliche Betreuung und ambulante Versorgung: die Psychiatrie zu Hause
ОглавлениеViele der Personen, die im gemeindepsychiatrischen Bereich eingetaktet oder in Heimen untergebracht sind, stehen unter einer gesetzlichen Betreuung. Dieses juristische Instrument wurde 1992 eingeführt und hat das bis dahin bestehende Vormundschaftsmodell abgelöst – laut Bundesregierung wurde dadurch Entmündigung zugunsten von Schutz, Fürsorge und größtmöglicher Selbstbestimmung überwunden (vgl. Bundesministerium der Justiz 2013: 4). De facto steigt die Zahl der Betreuungen seit Jahren stark an; von 1995 bis 2008 hat sie sich in etwa verdoppelt, sodass heute etwa 1,3 Millionen Betreuungen eingerichtet sind.7 Nach meiner Schätzung stehen davon mindestens 300.000 Menschen aufgrund einer psychiatrischen Diagnose unter Betreuung und müssen massive Eingriffe in ihre Autonomie hinnehmen. Je nach Aufgabenkreis der Betreuung sind keine eigenständigen Vertragsabschlüsse mehr möglich bis hin zur Übertragung des Aufenthaltsbestimmungsrechts auf die Betreuer_innen – also des juristischen Wegs, über den Betreuer_innen klinische Zwangseinweisungen und -behandlungen einleiten können. Die Berufsbetreuer_innen haben dabei sehr selten direkten Kontakt mit den Betreuten, im Durchschnitt einmal pro Quartal. In dringenden Situationen sind sie oft nicht erreichbar. Zudem besteht ein doppeltes Jedermensch-Recht: jede_r Bürger_in kann Gesetzliche_r Betreuer_in werden, da eine besondere berufliche Ausbildung nicht verlangt wird. Zugleich kann jede_r Bürger_in für jede_n andere_n eine Betreuung bei Gericht anregen. Letzteres wird neben Ämtern vor allem von Angehörigen, Nachbar_innen und Wohnungsbaugesellschaften genutzt.
Die Zahl der niedergelassenen Psychiater_innen hat sich seit den 1970er Jahren verfünffacht auf mehr als 5.000, die etwa zwei Millionen ›Fälle‹ pro Quartal behandeln (vgl. Schneider/Falkai/Maier 2011: 42f.). Die Psychiater_innen sind – neben den Hausärzt_innen – eine wichtige Anlaufstelle für den Eintritt in das psychiatrische System, sie übernehmen quasi eine Filterrolle und sind oft auch für Einweisungen in die Klinik verantwortlich. Psychiater_innen werden aus ihrer Sicht mit einer relativ geringen Pauschale pro Person vergütet, sodass sie kaum Zeit für Gespräche einräumen, sondern sich vorwiegend auf die Vergabe der Psychopharmaka konzentrieren. Das entspricht ihrer Qualifikation: nach dem Medizinstudium absolvieren Psychiater_innen eine Facharztausbildung und sind auch organisatorisch in die ärztlichen Berufsverbände eingebunden. Medikamente werden von ihnen in der Regel als unverzichtbar und als unbedingte Voraussetzung für einen weiteren Behandlungsprozess legitimiert, viele Psychiater_innen machen sie sogar für eine ›Humanisierung der Psychiatrie‹ verantwortlich: »Die sozialpsychiatrischen Fortschritte der letzten Jahrzehnte basieren auf der Wirksamkeit der Psychopharmaka.« (Möller/Laux/Kapfhammer 2005: 468) Die Erfindung der Depotspritze, über die Psychopharmaka einige Wochen im Körper verbleiben, machte die quasi lückenlose Kontrolle der Medikamenteneinnahme auch bei Menschen möglich, die sich außerhalb stationärer Settings bewegen. Entsprechend stark ist die Anzahl der verordneten Medikamente gestiegen; Matthias Seibt spricht von einer Vervierfachung der Verschreibungen seit der Psychiatrie-Enquête (vgl. Seibt 2000). Insbesondere der Anstieg der Neuroleptika-Vergabe bei Kindern und Jugendlichen mit Steigerungsraten von 40% innerhalb der letzten Jahre ist auffällig und hat auch für Schlagzeilen in der bürgerlichen Presse gesorgt.8
Neben den Psychiater_innen behandeln ca. 15.000 bis 20.000 ambulante Psychotherapeut_innen etwa 500.000 Personen pro Quartal – 1975 waren es noch ca. 1.500 Therapeut_innen. Menschen mit sogenannten ›schweren psychischen Störungen‹ werden allerdings meist von den Therapeut_innen abgelehnt und Angehörige der Unterschichten haben kaum Zugang zur ambulanten Psychotherapie, sodass es sich vorwiegend um ein mittelschichtsorientiertes Angebot handelt (vgl. Bühring 2001, Deutscher Bundestag 1975: 6).