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Wohnen – Leben – Arbeiten: die Psychiatrie in der Gemeinde

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Ein großes Anliegen der Psychiatriereform war, wie beschrieben, die sogenannte Wiedereingliederung der Psychiatrisierten nach dem Klinikaufenthalt – entsprechend wurden Versorgungsstrukturen geschaffen, die als Brücke zwischen dem Klinikaufenthalt und einer Existenz als als autonomer, möglichst lohnarbeitender Bürger_in dienen sollen. Direkt an die Kliniken angebunden wurden die Tageskliniken, die der Anschlussbehandlung oder der Vermeidung eines stationären Aufenthaltes dienen. Ihre Zahl ist so sehr angestiegen, dass mittlerweile auf vier psychiatrisch-stationäre Betten ein Platz in der teil-stationären Tagesklinik entfällt (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2007: 37).

Neu geschaffen wurde infolge der Psychiatriereform ein großer gemeindepsychiatrischer Bereich, der im Vergleich zu den Tageskliniken weniger medizinisch-therapeutisch, mehr betreuend und sozialarbeiterisch ausgerichtet ist. Die Angebote werden meist von gemeinnützigen, in Wohlfahrtsverbänden organisierten Vereinen, zum Teil aber auch von privatwirtschaftlich orientierten Trägern, durchgeführt. Diese Form der sogenannten Eingliederungshilfe wird größtenteils über die Sozialhilfe finanziert, insofern die betreffende Person kein eigenes Vermögen aufbringen kann. Eine zentrale Säule ist hier der Bereich ›Hilfe zum Wohnen‹. In Berlin etwa wurden zwischen 1993 und 2001 2.500 Klinikbetten abgebaut und gleichzeitig 2.800 Plätze im Wohnbereich etabliert – mittlerweile wurden noch zahlreiche weitere Wohnplätze geschaffen (vgl. Vock et al. 2007: 16, 41). Neben dem Wohnbereich wurden Angebote im Bereich Hilfen bei der Tagesstrukturierung, Beratung und Kontaktstiftung etabliert. Entsprechend bieten Kontakt- und Beratungsstellen (KBSen) und Tagesstätten Gruppen- und Sportangebote, Ausflüge, Selbsthilfegruppen und beratende Einzelgespräche an. Die KBSen stehen prinzipiell allen Interessierten offen und sollen entsprechend des gemeindepsychiatrischen Konzeptes auch den Dialog und die Kontaktfindung mit Nicht-Psychiatrisierten ermöglichen – in der Regel finden sich dort dennoch vorwiegend oder ausschließlich Psychiatriebetroffene ein. Die KBS-Klient_innen werden oft auch gezielt an weitere Einrichtungen wie Sucht-, Schuldner- oder Familienberatungsstellen weitervermittelt.

Laut Studien nehmen mindestens 75% der befragten gemeindepsychiatrischen Klient_innen Psychopharmaka ein (vgl. Russo 2012: 126). Oft ist die Medikamenteneinnahme Voraussetzung, um das entsprechende Angebot zu erhalten. Klient_innen, die sich verweigern, wird mit Rauswurf gedroht. Auch jenseits des Drucks Psychopharmaka einzunehmen, werden die Betroffenen mehr oder weniger eng sozialarbeiterisch kontrolliert und, vermittelt durch Rehabilitationspläne, Hausordnungen und Einzelkontakte, starken normativen Anforderungen hinsichtlich Tagesstruktur, Habitus und Hygiene unterworfen. Wichtiges Ziel ist dabei die Wiederherstellung der Arbeitsfähigkeit, die durch Gutachten verschiedener Institutionen, darunter Jobcenter, Krankenkassen und Rentenversicherungen, geprüft werden kann. Je nach Diagnose stehen den Betroffenen verschiedene Arbeitsmöglichkeiten zur Auswahl: von Beschäftigungstagesstätten über stundenweisen Zuverdienst und Werkstätten für behinderte Menschen hin zu Integrationsfirmen. Allein die Zahl der Personen, die mit einer psychiatrischen Diagnose in Werkstätten tätig sind, ist zwischen 2005 und 2010 von ca. 32.000 auf ca. 43.000 gestiegen (vgl. Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2012: 40). Mit dem Integrationsfachdienst besteht eine eigene Einrichtung, welche gezielt die sogenannte Teilhabe von Menschen mit ›körperlichen, geistigen oder seelischen Behinderungen‹ am Arbeitsmarkt unterstützen soll. Auch die Politik fordert verstärkt die berufliche Integration, exemplarisch etwa die Landesgesundheitsministerien in einem gemeinsamen Statement: »Das Prinzip Rehabilitation vor Rente wird bei psychisch kranken Menschen eindeutig nicht umgesetzt. […] Ziel muss es sein, die Frühverrentungen zu vermindern.« (Arbeitsgruppe Psychiatrie der Obersten Landesgesundheitsbehörden 2007: 48) Dennoch schaffen viele nicht mehr die Rückkehr auf den ersten Arbeitsmarkt oder beantragen nach einer längeren Phase der Krankschreibung Erwerbsunfähigkeitsrente – häufig massiv gedrängt von den Krankenkassen oder den Jobcentern, welche die aus ihrer Sicht kostenintensive Klientel an die Rentenversicherung weiterreichen. Im Jahr 2011 waren 41% der frühzeitigen Verrentungen durch eine psychiatrische Diagnose begründet (24% im Jahr 2000). Damit gelten psychische Ursachen derzeit als Hauptgrund für Frühverrentung (vgl. Deutsches Ärzteblatt 2013).

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