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Psychiatrie heute: viele Eingänge, kein Ausgang?

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Die Psychiatrie in Deutschland hat sich seit den 1970er Jahren nach Fachgebieten und Behandlungsformen ausdifferenziert, die Zahl der psychiatrischen Institutionen hat sich mehr als verdoppelt. Zahlreiche kleinere, an bestimmte Diagnosen, Zielgruppen, Lebenswelten angepasste Einrichtungen sind entstanden: anstelle einer De- fand eine Transinstitutionalisierung statt. Die nun ins allgemeine Gesundheitswesen integrierte Klinik bleibt im Zentrum des Systems, wird aber zur Akutpsychiatrie transformiert und soll primär der Krisenintervention dienen: die ›Kranken‹ werden nicht mehr zeitlebens weggesperrt, sondern sollen ›aktiv mitwirken‹ an ihrer eigenen, möglichst schnellen ›Genesung‹, indem sie den Prozess der medizinisch-diagnostischen (Selbst-) Verdinglichung widerspruchslos akzeptieren. Die Drohung des psychiatrischen Souveräns mit dem jederzeit abrufbaren klinischen Ausnahmezustand – Einweisung, Fixierung, bloßer Zwang – schwebt über allen Betroffenen des psychiatrischen und psychosozialen Systems. Aufgrund der klinischen Liegezeiten findet die dauerhafte Verwahrung der Aussortierten und Unnützen nun vorwiegend in Heimen inner- und außerhalb des eigentlichen psychiatrischen Gebietes oder in der Forensik statt. Zugleich hat sich die Gemeindepsychiatrie für die Klient_innen zur Psychiatriegemeinde mit meist langen Betreuungszeiten entwickelt. Trotz der kontinuierlichen Schaffung neuer, angeblich klientenzentrierter Leistungstypen – Betreutes Einzelwohnen für Autist_innen hier, Krisenintervention bei schwangeren Migrant_innen dort – wirkt sie normierend, hospitalisierend und paternalistisch: »[E]ine Transformation der Umstände der Entmündigung [hat sich] vollzogen, von der entrechtlichten zur verrechtlichten, auf einem Vertragsabschluß beruhenden Entmündigung.« (Hellerich 1988: 59) Der Sozialpsychiatrische Dienst registriert als staatlich-psychiatrisches Auge und Ohr präventiv Abweichungen und steuert mit weiteren Behörden und Gremien den gemeindepsychiatrischen Sektor; die gesetzlichen Betreuer_innen verwalten die Psychiatrisierten, die nicht mehr gesellschaftsfähig sind. Vorwiegend für sogenannte leichte und mittelschwere Fälle wird eine sich ausweitende Palette von ambulanten Psychotherapien angeboten, die sanfte psychologische Anpassung verheißen. Zugleich wurden auch die stationären psychiatrischen Settings durch die Anstellung von Therapeut_innen zunehmend psychologisiert, das heißt ein psychiatrischer Zugriff auf zuvor private Emotionen und Verhaltensweisen erschlossen. Aus dem Wunsch nach Alleinsein wird nun eine pathologische, zu behebende Kontaktschwäche, aus Nicht-Mitmachen eine manifeste, zu therapierende Hemmung etc. Franco Basaglia kritisiert diesen therapeutischen Prozess als »politische[n] Akt der Integration, insofern als er versucht, eine bestehende Krise – regressiv – wieder zurechtzubiegen, indem er letztlich das hinnehmen lässt, was die Krise überhaupt erst verursacht hat« (Basaglia 1971: 138). Nicht zuletzt aufgrund der quantitativen und qualitativen Ausweitung der psychiatrischen Diagnosen schreitet die Medikalisierung der Gesellschaft11 hin zur Bedarfsmedikation für alle voran. Gefühlszustände, die im Fordismus noch als normal galten, werden »als ›krank‹ und ›behandlungsbedürftig‹ einem umfassenden pharmazeutisch-therapeutischen Normalisierungsregime« (Graefe 2011) unterworfen. Die Pharmakolisierung bedeutet dabei die »absolute Verdinglichung des Patienten, die krasseste Form der Behandlung einer Sache« (Hellerich 1988: 65) – Symptome werden nicht erfasst, um sie zu verstehen, sondern allein, um sie chemisch zu beseitigen.

Entsprechend der Forderung der Enquête, den Blick »von den Kranken auf die viel größere Zahl der Gesunden und möglicherweise Gefährdeten [zu] richten und […] vom Einzelindividuum […] auf ganze Gruppen und Bevölkerungsteile, bis hin auf die Gesellschaft als Ganzes« (Deutscher Bundestag 1975: 385), wurde ein neuartiges psychiatrisch-therapeutisches Präventionsregime erschaffen. Zwischen einem Drittel und der Hälfte der Bevölkerung hätten im Laufe ihres Lebens eine behandlungsbedürftige ›psychische Krankheit‹, verlautbaren Politik und Gesundheitswesen unisono. Staatlicherseits werden daher – neben den schon erwähnten Sozialpsychiatrischen Diensten und vorgelagerten Beratungsstellen – Kampagnen unter dem Motto ›Vorbeugen statt heilen‹ aufgelegt. Tatsächlich geht es weniger um eine vorbeugende Verbesserung der Lebensumstände, sondern mehr um das Registrieren einer Prä-Devianz. Schon ›Anzeichen einer Störung‹ können zu sozialpsychiatrischen Begutachtungen und weiteren Eingriffen führen, die von einer Antragsstellung der Betroffenen unabhängig sind: Prävention erhält damit den Status einer »Zuführungsfunktion zum vorhandenen Versorgungssystem« (Reichel 1983: 99). Diagnosenspezifische Kompetenznetze schulen Hausärzt_innen, Altenpfleger_innen, Lehrer_innen und Betriebsräte und animieren sie, Auffällige in Früherkennungszentren zu überweisen. Durch Hirnforschung und Humangenetik weitet sich Prävention auf Potentialitäten aus, die angeblich im Körper jeder Einzelnen schlummern können. Die Psychiatrie ist damit aus dem gesellschaftlichen Schattendasein der alten Anstalt getreten, zu Teilen enttabuisiert und weit in die soziale und geografische Mitte gerückt, und zwar »vom Paradigma der Internierung zum allgemeinen Interventionismus« (Castel 1983: 308). Anstatt einer Minderheit von ›Verrückten‹ steht die ganze Bevölkerung, segregiert in einzelne Risikopopulationen, im Fokus. Zusätzlich zu dem ärztlich dominierten Panoptikum der Klinik und des Heims hat sich ein multiinstitutionelles und interdisziplinäres Kontrollregime entwickelt, das in den gemeindepsychiatrisch durchdrungenen Sozialraum – den Stadtteil, die Nachbarschaft, den Betrieb und die Familie – ausgreift. Wenn es auch vorwiegend Sozialarbeiter_innen, (Haus-)Ärzt_innen und Pädagog_innen sind, die für die Frühregistrierung und die Nachsorge zuständig sind, so kann doch jede_r Bürger_in zur potentiellen psychiatrischen Zuträger_in werden – sei es durch eine Mail an den Sozialpsychiatrischen Dienst, durch die Anregung einer Betreuung oder einen Anruf bei der Polizei.

Auch auf der Ebene der psychiatrischen Strukturen selbst hat eine scheinbare Öffnung stattgefunden: unter den Schlagwörtern des Trialogs und der Partizipation werden Betroffene und Angehörige in Gremien einbezogen, sogenannte Patientenorientierung gilt als »zentraler Unternehmenswert« (Kohler 2013) und Inklusion wird »große volkswirtschaftliche Bedeutung« (Wagner 2013) beigemessen. Betroffene werden als Genesungsbegleiter_innen in manchen Kliniken angestellt als Vorbild für jene, die krisenbedingt von der Norm abfallen und, wie es eine Sozialpsychiaterin formuliert, zum »tieferen Verständnis für […] psychische Krankheit« (Amering 2013). Sie dienen damit lediglich als kostengünstiges Add-On, an den psychiatrischen Strukturen und Zielen ändert sich nichts Grundlegendes. Eine Opposition gegen ein solchermaßen integratives System, das sich sogar kompatible Teile des Wissens und der Erfahrungen Betroffener zu eigen macht, fällt offenbar schwer. So stellt sich die früher mitunter radikale Selbsthilfe-Bewegung stark entpolitisiert dar, weite Teile sind – gefördert durch die Reformpsychiatrie und die Pharma-Industrie – in nach Diagnosen spezifizierten und professionell angeleiteten Gruppen geendet.

Der massiv erweiterte Anspruch der reformierten Psychiatrie ›abgestimmte Versorgungspfade‹ zu bahnen und ›Versorgungslücken‹ zu vermeiden, bildet sich nirgends so deutlich ab wie in der häufig gebrauchten Metapher des psychiatrischen Netzes, durch das niemand fallen soll. Gerhard Mutz schreibt dazu: »[D]ie Kontrollinstanzen werden verlängert und das Netz der sozialen Kontrolle erweist sich als engmaschiger, da es bereits in alltäglichen Lebensbereichen wirksam wird, die bisher durch die Ideologie der Normalität vor staatlichen Kontrollmaßnahmen relativ geschützt waren.« (Mutz 1983: 263f.) Die Kontrollfunktionen wurden so verfeinert, dass die geschmeidigen psychiatrischen Strukturen eine »enge Verbindung mit dem sozialen Leben der Devianten« (Hellerich 1985: 161, zit. n. Balz/Bräunling/Walther 2002: 4) eingehen. Die Konsequenzen für Betroffene in der Gemeindepsychiatrie beschreibt Hannelore Klafki: »Einmal im psychosozialen Netz gefangen, gibt es so für die meisten Menschen kein Entkommen mehr. Was ursprünglich ein Netz von Hilfeangeboten sein sollte, erweist sich auf Dauer als ein Netz, in dem Betroffene hängen bleiben.« (Klafki 2003) Das psychiatrische Netz umfasst gerade durch seine Sektorierung vielschichtige, aufeinander abgestimmte Komponenten, ganze Behandlungsketten, die je nach Subjekt und Lebenslage auf Freiwilligkeit oder Zwang, ambulante oder stationäre Settings, kurze oder lange Verweildauer angelegt sind. Integrative Maßnahmen der Gemeindepsychiatrie, die sogenannte Teilhabe ermöglichen sollen und damit auch den Verbleib auf dem ersten Arbeitsmarkt, stehen neben exkludierenden Komponenten wie Einweisung, Heimaufnahme oder starker medikamentöser Sedierung. Nicht zuletzt für das Gelingen der rehabilitativen Maßnahmen ist das System darauf angewiesen, eine Binnendifferenzierung vorzunehmen und sogenannte schwierige Fälle von der Re-Integration auszuschließen. Beide Facetten verbinden sich somit zu einem flexiblen, tendenziell niedrigschwelligen und proaktiven System, das fallbezogen auf Einschluss oder Ausgrenzung steuern kann. Gesprächsangebot und Fixierung, Trialog und Autorität, offenes Setting und straffe Sanktionierung bilden eine mitunter widersprüchliche, aber funktionale Einheit. Gerhard Mutz sieht die Stärke des psychiatrisch-psychosozialen Systems darin,

dass beide Pole – Integrations- und Desintegrationsprozesse – ein einheitliches Ganzes bilden, in dem die einzelnen Elemente ineinander verschachtelt sind, sich ergänzen, überlagern und selbst wenn sie miteinander rivalisieren, wie beispielsweise Sozialpsychiatrische Dienste und Anstalten, innerhalb dieses Gesamtkomplexes gleichzeitig funktionieren, indem sie als Normalisierungsinstanzen das Feld zwischen Norm und Abweichung regulieren und kontrollieren (Mutz 1983: 328).

Balz/Bräunling/Walther (2002: 4) verorten in der »Pharmakolisierung das Bindeglied dieses Transformationsprozesses«: die Psychopharmaka sind demnach die konstitutive Bedingung für den Wandel von der unipolar-internierenden zur multipolaren Einschluss-Ausschluss-Psychiatrie.

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