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Aufbau dieses Bandes
ОглавлениеDurch die gemeinsame bewegungspolitische Zusammenarbeit in der Vergangenheit in losem Kontakt miteinander stehend, haben wir uns nach und nach als Herausgeber_innengruppe zusammengefunden. Während der Arbeit hat sich dann herauskristallisiert, dass wir über eine ähnliche Stoßrichtung der institutionellen und disziplinären Kritik hinaus inhaltlich keine gemeinsame programmatische Linie vertreten. Dieser Pluralismus, den wir innerhalb unserer Herausgeber_innengruppe repräsentieren, hat sich nicht zuletzt in der Auswahl der hier veröffentlichten Beiträge niedergeschlagen und dazu geführt, dass die gewählten Ansätze und politischen Konsequenzen der Beiträge teils im Widerspruch zueinander stehen. Was der Band damit zumindest in seiner Gesamtheit abzubilden vermag, ist ein Schlaglicht auf den Stand der derzeitigen linksradikalen antipsychiatrischen Theoriebildung zu werfen.
Dieses Mosaik in thematische Blöcke einzuteilen, ist uns deshalb nicht leicht gefallen und stellt für uns einen Akt der Pauschalisierung dar, der zwar publikationstechnisch notwendig ist, jedoch oft der Spannweite der Beiträge nicht in Gänze gerecht wird. Wir haben uns schließlich für eine Dreiteilung entschieden, welche die Beiträge danach sortiert, wogegen sich die jeweilige Kritik primär richtet: (I.) gegen die Institution und Disziplin Psychiatrie und Psychologie und deren gesamtgesellschaftliche Funktion, (II.) gegen konkrete Diagnosen, Konzepte und Praxisformen sowie (III.) gegen die Psychiatrie- und Psychologiekritik als solche.
Den Auftakt im ersten Block der Analysen zur Funktion der psychiatrischen Institution bildet Stephan Weigands Aufsatz »Inklusiv und repressiv. Zur Herrschaftsförmigkeit der reformierten Psychiatrie«. Er macht darin eine empirisch orientierte Bestandsaufnahme der heutigen psychiatrischen Versorgungsstruktur und stellt sie in den Kontext der dafür verantwortlichen bundesrepublikanischen Psychiatriereform der 1970er Jahre. Hierbei arbeitet er die Unterschiede zur vor der Reform existierenden Anstaltspsychiatrie heraus und geht besonders auf den flexibilisierten, an die neoliberale Gesellschaft angepassten Herrschaftscharakter der heutigen Psychiatrie ein. Vor diesem Hintergrund erklärt sich schließlich auch das Paradox, warum das alte Anstaltssystem zwar abgeschafft wurde, die heutigen Einrichtungen jedoch zahlenmäßig dominieren, oder warum trotz Inklusion die Zahl der Zwangseinweisungen kontinuierlich ansteigt.
In »Diagnose: Gesellschaftlich unbrauchbar mit Aussicht auf Heilung« entwickeln Sohvi Nurinkurinen und Lukaš Lulu – wie ihr Untertitel anzeigt – eine »Analyse und Kritik der heutigen Psychiatrie in ihrer Parteilichkeit für die herrschenden bürgerlich-kapitalistischen Verhältnisse«. Dafür erläutern sie, wie die im DSM oder in der ICD gelisteten psychiatrischen Diagnosen grundsätzlich zustande kommen, kritisieren sie, auf welchen theoretischen Annahmen die zwei am weitesten verbreiteten Behandlungsmethoden der Pharmako- und Verhaltenstherapie fußen, und verwerfen sie die Vorstellung von Lohnarbeit als Garantin eines glücklichen und psychisch gesunden Lebens. Welches staatliche Interesse in der Wiederherstellung dieser Form von ›Gesundheit‹ steckt, zeigen die Autor_innen im letzten Teil ihres Beitrags.
Esther Mader gibt in »Psychopathologisierung und Rassismus in Deutschland. Eine feministische Perspektive« einen Überblick über die historische und funktionale Verwobenheit der psychiatrischen Disziplin mit Kolonialismus und Rassismus und wirft einen rassismus-kritischen Blick auf die aktuelle Versorgungslandschaft in Deutschland. Sie plädiert dafür, sich kritisch mit der Dominanz des weißen Diagnosesystems in Forschung und Praxis auseinanderzusetzen und verschiedene, auf Rassismus basierende Diskriminierungserfahrungen anzuerkennen, wie das abschließende Interview mit zwei Women of Color verdeutlicht, die von ihren beruflichen Erfahrungen in der psychosozialen Beratung berichten.
Dass die Diskussionen um das DSM in viele Bereiche der Gesellschaft hineinreichen und nicht ohne Wirkungen bleiben, veranschaulicht Anne Allex ´ Beitrag »›Wenn es denn der Wahrheitsfindung dient …‹ Zu rechtswidrigen Gründen und Verfahren bei ›psychologischen Gutachten‹ bei Erwerbslosen«. Der juristisch informierte Text beschreibt anhand von Fallbeispielen die seit einigen Jahren übliche Praxis von Jobcentern, die Erwerbslosigkeit von ALG II-Bezieher_innen mittels psychologischer Gutachten feststellen zu lassen. Die Autorin macht deutlich, dass es sich hierbei um ein stigmatisierendes Instrument handelt, das nicht zuletzt das widerständige Verhalten von Erwerbslosen pathologisiert, und gibt praktische Ratschläge zur Selbsthilfe.
Der zweite Block zur Kritik an konkreten Diagnosen und Konzepten wird eröffnet von Daniel Sanins Analyse der »Entstehung und Funktion der Diagnose ›Abhängigkeitssyndrom‹ im Kapitalismus aus kritisch-psychologischer Sicht«, in der er den ›Sucht‹-Diskurs historisch entlang der Entstehung der kapitalistischen Moderne nachvollzieht und verdeutlicht, dass die Diagnose – eingespannt in ein Dispositiv der Selbst- und Fremdkontrolle – heutzutage auf alle Verhaltensweisen ausgedehnt werden kann und damit potentiell über allen Menschen schwebt. Angesichts einer rigiden staatlichen Drogenpolitik wäre ein sachlicherer Umgang mit ›Sucht‹ nötig, weil diese nur innerhalb ihres gesellschaftlichen Kontextes verstanden werden kann.
Welche persönliche und gesellschaftliche Dimension die nationalsozialistische Vernichtung psychiatrisierter Menschen noch heute hat, beschreibt Andreas Hechler in seinem Beitrag »Diagnosen von Gewicht. Innerfamiliäre Folgen der Ermordung meiner als ›lebensunwert‹ diagnostizierten Urgroßmutter«, in dem er einen Einblick in die Krankengeschichte seiner im Zuge der ›Aktion T4‹ in Hadamar getöteten Urgroßmutter gewährt und den (für bundesdeutsche Verhältnisse eher untypischen) Umgang mit ihrer Ermordung innerhalb seiner Familie rekonstruiert. Er zieht eine Linie von den Spuren des Gestern zum Heute und erklärt, dass das Tabuisieren der NS-›Euthanasie‹-Opfer im engen Zusammenhang mit einem gesamtgesellschaftlichen Ableismus steht, diskutiert Gründe, die die Identifizierung mit dieser Opfergruppe erschweren, und plädiert für Empathie mit den Opfern und ein Engagement gegen Ableismus heutzutage.
In »Trauma-Konzepte im Spannungsfeld zwischen psychischer Störung und gesellschaftspolitischer Anerkennung« stellt Catalina Körner »Einige Gedanken zur Problematik von ›Opferschaft‹ am Beispiel des Diskurses um ›Kollektive Deutsche Kriegstraumata‹« an. Sie verfolgt dabei die Entstehung der Diagnose der ›Posttraumatischen Belastungsstörung‹, die erst im Zuge der Rückkehr von US-amerikanischen Vietnamkriegssoldaten im DSM anerkannt wurde, und diskutiert sie im aktuellen Kontext der geschichtsrevisionistischen Umdeutung der deutschen Kriegsschuld. Nicht allein an diesem Beispiel wird deutlich, dass eine individualisierte Sicht auf den Umgang mit erlebter Gewalt, wie sie im DSM stattfindet, die Täterschaft und gesellschaftlichen Machtverhältnisse notwendig unwidersprochen lässt.
Fiona Kalkstein und Sera Dittel kritisieren in ihrem Aufsatz »Zur Ver_rückung von Sichtweisen: Weiblichkeit* und Pathologisierung im Kontext queer-feministischer psychologischer Auseinandersetzungen« die immanenten Hetero-und Cis-Sexismen und Weiblichkeitsabwertungen in der psychologischen Theorie und Praxis, diskutieren Klassiker_innen der feministischen Psychiatriekritik und machen Ansätze aus der Kritischen und aus der feministischen Psychologie produktiv. Ausgehend von der klassischen Frauentherapie argumentieren sie für die Integration queerfeministischer Ansätze in der Psychotherapie, um den gesellschaftlichen Machtverhältnissen, die vom DSM ausgeblendet werden, Rechnung zu tragen.
In »›Die Unfähigkeit zum Widerstand wird hier Moral.‹ Eine feministische Irrfahrt ins Reich der Verhaltenstherapie« überführen Christiane Carri und Heidrun Waldschrat die verhaltenstherapeutischen Strategien zur Behandlung einer ›Borderline-Persönlichkeitsstörung‹ der Parteilichkeit für die herrschenden Verhältnisse, indem sie potentielle Therapieerlebnisse mit den Ansprüchen psychologischer und philosophischer Theorien konfrontieren. Thematisiert werden dabei unter anderem ein unhinterfragtes Therapeut_in-Patient_in-Verhältnis, die Pathologisierung von Homosexualität, die Psychologisierung abweichenden Verhaltens und der Sexismus innerhalb des therapeutischen Settings.
Im letzten Block, der unter dem Titel Kritik der Psychiatriekritik läuft, üben die Autor_innen eine konstruktive Kritik an der bestehenden Psychiatriekritik.
Im eröffnenden Aufsatz »Das Trilemma der Depathologisierung« arbeitet Mai-Anh Boger die je eigenen Widersprüche heraus, mit denen eine Bewegung wie die antipsychiatrische grundsätzlich konfrontiert ist, will sie den herrschaftlichen Diskurs überwinden. Sie liefert dabei ein tieferes Verständnis dafür, wie eine Kritik des pathologisierenden Diskurses aussehen kann, die das reale Leid der Menschen nicht verleugnet oder deren Wunsch nach Teilhabe an einem bürgerlichen Leben rundweg ablehnt.
Eine Dokumentation der politischen Arbeit des Berliner AK Psychiatriekritik namens »Der AK Psychiatriekritik – wider die psychiatrische Macht« gibt in ihrem Hauptteil einen Einblick in die internen Debatten der Gruppe zur Frage der Betroffenheit. Dabei geht es um Möglichkeiten und Grenzen eines erweiterten Begriffs von Betroffenheit, der die Inanspruchnahme psychologisch-psychiatrischer Hilfsangebote weder moralisch kritisiert noch deren institutionelle Zwänge verharmlost. Welche Konsequenzen ein erweiterter Betroffenheits-Begriff für die Arbeit als politische Gruppe aber auch für den Umgang mit Krisensituationen innerhalb der linksradikalen Szene nach sich zieht, ist ebenfalls Gegenstand der hier abgebildeten Diskussion.
Dass sich die antipsychiatrische Bewegung nicht selten antisemitischer und shoahrelativierender Argumentationsmuster bedient, dokumentiert der daran anschließende Beitrag »›Nazi, werde schleunigst Arzt. Sonst holt der auch Dich!‹ Zur Shoarelativierung in der Antipsychiatrie« von Kevin Dudek. Sowohl auf basisaktivistischer als auch auf politisch hochrangiger Ebene trifft man innerhalb der Antipsychiatrie auf Verschwörungstheorien, wonach die Psychiatrie für die nationalsozialistische Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden verantwortlich sei, auf Kontinuitätsbehauptungen, Gleichsetzungen oder Vergleiche mit der Hexenverfolgung. Statt die Ursachen für die Zumutungen der Psychiatrie im NS zu suchen und damit eine besondere Form des Geschichtsrevisionismus zu betreiben, plädiert der Autor für eine Analyse, die – eingedenk der nationalsozialistischen Massenvernichtung – das Heute fokussiert.
Den Abschluss bildet Lars Distelhorst, der in seinem Beitrag »Kein Ausgang. Zum komplementären Verhältnis von Diagnose und Inklusion« die Konzepte von Inklusion und Pathologisierung hinterfragt und mit dem poststrukturalistischen – und in diesem Fall auch bürgerlichen – Vor-Urteil aufräumt, dass die Menschen durch das neue DSM einfach nur stärker als bisher ausgegrenzt würden. Stattdessen kann er unter Einbeziehung der postfordistischen Produktionsbedingungen aufzeigen, wie Inklusion und Pathologisierung Hand in Hand gehen und die Menschen für die veränderten ökonomischen Anforderungen nutzbar machen: Die Pathologisierung, indem sie die Schwelle des ›Krankhaften‹ heruntersetzt und entdramatisiert; die Inklusion, indem sie an das frühzeitig entdeckte ›Krankhafte‹ andockt und es in die Produktion einspeist.