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Kontrolle – Zwang – Bürokratie: gegen die neue Psychiatrie

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Dem sozialpsychiatrischen Reformprojekt wurde vor allem in den 1980ern mit grundsätzlicher Kritik begegnet. Psychiatriekritiker_innen zeigten sich teils enttäuscht, dass statt eines gesellschaftlichen ein medizinischer Krankheitsbegriff fortgeschrieben und anstelle von Selbstorganisation der Betroffenen die Professionellen-Herrschaft prolongiert worden sei. Die Gemeindenähe sei lediglich technokratisch – anhand statistischer Kennzahlen zur durchschnittlichen Entfernung von Wohnsitz und Einrichtung – umgesetzt worden. Die von der Psychiatriereform ventilierte Fiktion der Gemeinde als heilendem sozialen Netzwerk und autonomem Lebensraum widerspreche der tatsächlich stattfindenden Vereinzelung und dem Zerfall der nachbarschaftlichen Beziehungen (vgl. Zurek 1991: 244f.). Betont wurde insbesondere der Kontrollaspekt der reformierten Psychiatrie. So schrieb die Blaue Karawane Bremen, die seit 1985 mit künstlerischen Aktionen für die Auflösung der Kliniken eintrat:

Die sogenannte gemeindenahe Psychiatrie mit ihrem komplexen Versorgungssystem mit Heimen und sozialpsychiatrischen Diensten hatte nicht den mündigen psychisch kranken Bürger geschaffen und auch nicht die Strukturen, die dazu verhelfen könnten; sie hatte eher weitergreifende Instrumente der Reglementierung geschaffen im Sinne des alten Auftrags der Psychiatrie – aber jetzt moderner, eleganter, nutzbarer. (Die Blaue Karawane o.J.)

Auch das Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen hielt fest: »Gemeindenahe Psychiatrie führt zur totalen Kontrolle der Betroffenen, zur Psychiatrisierung der Gesellschaft und erwiesenermaßen zum Anstieg von Zwangsunterbringungen.« (Forum Anti-Psychiatrischer Initiativen 1990) Heiner Keupp, damals noch kritischer Sozialpsychologe, führte die ausgeweiteten Kontrolltendenzen auf eine falsche Prioritätensetzung der Psychiatriereform in Deutschland zurück, die im Gegensatz zu Italien nie auf eine Überwindung der Anstalt hingewirkt hätte. Lag in Deutschland der Akzent auf der Installation einer gemeindebezogenen Versorgung von oben, wurde in Italien ein prinzipieller Reformansatz umgesetzt, der sich die Auflösung aller psychiatrischen Kliniken zum Ziel setzte und »verhindern sollte, die Logik der Anstalt ins Territorium zu transportieren« (Battiston/Bonn/Borghi 1983: 243). Die hiesige Bewegung hat sich laut Keupp nur für eine bessere Versorgung, nicht aber für die Befreiung der Betroffenen eingesetzt:

Es wurde versucht, den Versorgungspol der Psychiatrie zu stärken und dadurch den Kontrollplan zurückzudrängen. Der Doppelcharakter von Hilfe und Kontrolle, der für die Psychiatrie von Beginn an konstitutiv ist, konnte dadurch nicht außer Kraft gesetzt werden. Umso weniger Ressourcen für eine angemessene Versorgung verfügbar sind, desto deutlicher zeichnet sich wieder die häßliche Fratze der Kontrolle ab. (Keupp 1987)

Entsprechend bilanzierte Keupp, dass die Anstalt gestärkt aus dem Modernisierungsprozess hervorgegangen sei. Von anderen Autor_innen wurde der bereits angedeutete Zusammenhang einer entfalteten psychiatrischen Angebotsstruktur und erhöhten Zahl von Zwangseinweisungen – ebenso wie gestiegener Psychopharmaka-Vergabe – kritisiert. Durch die zahlreichen ambulanten und beratenden Einrichtungen würden mehr Menschen diagnostiziert und in das System einbezogen: »Die Schwelle zur Psychiatrisierung sinkt.« (Lehmann 1989) In der Kritik stand auch, dass in den neuartigen Versorgungsstrukturen keine tatsächliche Unterstützung, sondern vor allem eine paternalistische Behandlung und Verwahrung der Nutzer_innen geleistet würde. Hans Luger, Mitarbeiter des antipsychiatrischen Projektes KommRum, verwies darüber hinaus auch auf die autoritäre Binnenstruktur und die bürokratische Verfasstheit der Gemeindepsychiatrie. Diese liege meist in der Hand des Öffentlichen Gesundheitsdienstes oder freier Träger der Wohlfahrtspflege:

Die ›psychosoziale Versorgung‹ ist eine eigene fiktive Welt aus ›Betten‹ und ›Plätzen‹, aus Tagessätzen und Paragraphen, aus Akten, Anträgen, Bewilligungen, Berichten, aus politischen Strategien und Bündnissen, aus Gremien und Mauscheleien auf den Fluren. Die konkrete Wirklichkeit derer, ›für die‹ das alles geschaffen wird, […] ist herausgefiltert, weggekürzt. (Luger 1990: 117f.)

Aus der Rationalisierung und Bürokratisierung ergäbe sich für die Betroffenen ein Mangel an einem konkreten Gegenüber, an dem sich Konflikte austragen ließen, und damit eine subtile Entmündigung und politische Passivierung der Betroffenen. Gerade die vielen engagierten und verständigen Mitarbeiter_innen, »die halt leider nicht anders können«, lähmten potenziellen Widerstand:

Das ist das Heimtückische an diesen bürokratischen Hürden: Es ist kein persönlicher Feind mehr sichtbar, kein Unterdrücker, den man wenigstens noch hassen könnte, wie etwa sadistische Ärzte oder Pfleger […] Das persönliche Gefühl der Ohnmacht entwickelt sich entlang der Sachzwänge. (ebd.: 119)

Viele der oben genannten Kritikpunkte sind in den »Thesen zur Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie« der Bundesarbeitsgemeinschaft Soziales und Gesundheit der Grünen gebündelt, die unter Mitwirkung von Vertreter_innen der antipsychiatrischen Bewegung entstanden. Auch hier wird eine Stärkung der Klinik konstatiert, da »sie durch gemeindenahe Einrichtungen den Druck der Lagerathmosphäre mindern konnte [und] weil sie nun inmitten einer Vielzahl sozialpsychiatrischer Institutionen mit ihrer Drehtür den Rhythmus des Kreislaufs der Irren bestimmen kann« (Die Grünen 1984: 5). Das neue psychiatrische System sei damit gefährlicher als zuvor, denn es »ist flexibel, hochselektiv, undurchsichtig. Es funktioniert als Frühwarnsystem von Krisen, ohne daß es frühzeitig hilft« (ebd.: 5f.). Die Sozialpsychiatrie habe statt leicht zugänglicher Dienstleistungen für Menschen in Not spezialisierte, expertengeleitete, entmündigende und entpolitisierende Institutionen etabliert. Statt Wohnungen würden Therapeutische Wohngemeinschaften geschaffen: »Sozialpsychiatrische Institutionen übernehmen die Probleme der Leute und verwalten sie, statt daß sie eine Öffentlichkeit dafür schaffen und die Gemeinde zur Auseinandersetzung zwingen.« (ebd.: 6) So radikal und treffend die versammelte Kritik erscheint, waren sich die angeführten Kritiker_innen mit ihren Gegner_innen aus den Reihen der Psychiatriereform doch meist einig, auf Bürger- oder Menschenrechte zu pochen und Teilhabemöglichkeiten – wenn auch unterschiedlich ausbuchstabiert – einzufordern. Die Grünen etwa forderten »Erwerbsmöglichkeiten in kooperativ organisierten Projekten sowie in ›normalen‹ Lohnarbeitsverhältnissen«. Den »Herrschaftscharakter psychiatrisch-therapeutischer Hilfen« wollten sie ausgerechnet damit angehen, indem die »Vorhaltepflicht für therapeutische und betreuende Dienste […] bei der Kommune zu liegen« (ebd.: 8) habe. Ob damit wirklich die versprochene Abschaffung und Überwindung der Psychiatrie erreicht worden wäre?

Viele Facetten dieser aus den 1980er Jahren stammenden Kritik sind heute, nicht zuletzt aufgrund des Schwindens der antipsychiatrischen Bewegung und der allgemeinen Schwäche der Linken, kaum noch vernehmbar. Die wenigen verbliebenen antipsychiatrischen Initiativen beschränken sich meist auf die moralische Skandalisierung der unmittelbar evidenten Repression und des Zwangs in der Klinik in Form von Einweisung, Medikamentierung und Fixierung. Den Wandel der Versorgungslandschaft und des gesellschaftlichen Kontextes thematisieren sie kaum. Wie aber lässt sich das psychiatrische System heute, knapp 40 Jahre nach der Enquête, adäquat kritisieren?

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