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Psychiatrische Gremien und Sozialpsychiatrischer Dienst: die Psychiatrie wird gemanagt
ОглавлениеAngestoßen durch die Psychiatrie-Enquête wurden von den Kommunen flächendeckend Sozialpsychiatrische Dienste eingerichtet, die bei den Gesundheitsämtern angesiedelt sind. Zu ihren Aufgaben gehören die aufsuchende Krisenintervention,9 die auf den Einzelfall bezogene Steuerung der jeweiligen Maßnahmen und die Begutachtung, auch im Auftrag weiterer Ämter, wie etwa der JobCenter und der Rentenversicherung. Zudem reguliert der Sozialpsychiatrische Dienst (SpD) gemeinsam mit dem Sozialamt im Rahmen des sogenannten Fallmanagements die Vergabe von Leistungen im Anschluss an Klinikaufenthalte, koordiniert also die Zuweisungen der Betroffenen im gemeindepsychiatrischen Bereich und kontrolliert deren Entwicklung anhand eines zeitlich durchgetakteten Behandlungsplans. Ursprünglich war der SpD als niedrigschwellige, primär beratende Anlaufstelle für die gesamte Bevölkerung gedacht. Tatsächlich hat er sich jedoch zu einer staatlichen Agentur10 entwickelt, die einerseits die ›Klient_innen‹ durch das (gemeinde-)psychiatrische System delegiert, andererseits abweichendes Verhalten außerhalb der psychiatrischen Versorgung registriert und umfassend dokumentiert. Meist reagiert der SpD hierauf mit Kontrolle und Repression. Nicht umsonst gehört zu seinen Befugnissen die Veranlassung von Zwangseinweisungen. Gerade in Zeiten niedrigen Personalstands bei der öffentlichen Verwaltung und damit verringerter Ressourcen der Ämter sich beratend dem ›Einzelfall‹ zuzuwenden, wird von dieser Option rege Gebrauch gemacht.
Immer wieder wird von reformorientierten Versorgungsforscher_innen die Sektorierung des deutschen Systems beklagt, die aufgrund der zahlreichen Akteure und der zersplitterten Finanzierung durch verschiedene Kostenträger, von Krankenkassen über die Rentenversicherung hin zum Jugend- und Sozialamt, besonders hohe Abstimmung erfordere. Jenseits der individuellen Behandlungsplanung existieren daher zahlreiche Strukturen zur Planung der administrativen und der Angebotsebene. Die hochverdichtete Gremienlandschaft zeigt die Dimensionen des psychiatrischen Feldes mitsamt seiner ausdifferenzierten Teilbereiche und angrenzenden Gebiete an – aber auch die politischen und fachlichen Koordinierungsleistungen, die zu erbringen sind in einer Gesellschaft, in der zunächst jede Einrichtung konkurrenzförmig nur für sich selbst arbeitet. Allein in Berlin arbeiten mehr als 200 psychiatrische Gremien. Die Spannbreite reicht von den Psychiatriekoordinator_innen der Bezirke, welche die gemeindepsychiatrische Versorgung steuern, über Psychosoziale Arbeitsgemeinschaften, in denen alle Versorgungsakteure zusammenarbeiten sollen, hin zu den Psychiatriebeiräten der Bezirke und des Landes, welche die jeweiligen gesundheitspolitischen Entscheidungsträger_innen beraten. Die Gremien überwachen sowohl die Inanspruchnahme und Finanzierung der Angebote als auch die Frage, ob Bedarf an weiteren Angeboten besteht und gegebenenfalls neuartige Angebotstypen für bestimmte identifizierte Bevölkerungsgruppen (etwa Migrant_innen, Wohnungslose, Schwangere in Krisensituationen) geschaffen werden sollten. In die Gremien sind mittlerweile häufig im Sinne des sogenannten Trialogs einzelne ›politikfähige‹ Vertreter_innen von Betroffenen- und Angehörigenverbänden einbezogen; sie stehen allerdings einer Überzahl an Professionellen gegenüber und müssen sich zudem der Eigenlogik von planerisch-gestaltenden Institutionen im bestehenden System fügen.