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1.2 Konzepte von Gesundheit und Krankheit
ОглавлениеDie Integrative Medizin ist unter anderem das Ergebnis der durch die gesellschaftlichen Bedingungen sich wandelnden Konzepte von Gesundheit und Krankheit insbesondere im 20. Jahrhundert.
Der WHO-Gesundheitsbegriff von 1947 „Gesundheit ist der Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur das Freisein von Krankheit und Gebrechen“ (WHO 2006) ist zwar mehrdimensional und positiv, deutet aber auch auf einen Idealzustand hin, der unerreichbar erscheint und somit realitätsfern ist. Insbesondere das der konventionellen Medizin zugrunde liegende biomedizinische Krankheitsbild mit der Grundannahme, dass jeder Krankheit eine Veränderung des organischen Substrats durch innere Bedingungen (z.B. genetische Codes) oder äußere Einwirkungen (z.B. Infektionen oder chemische-physikalische Einflüsse) zugrunde liegt, hat die Medizin seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts maßgeblich geprägt und insbesondere bei der Bekämpfung von Infektionserkrankungen zu unübersehbaren Erfolgen geführt. Allerdings hat dieser Ansatz auch nicht zu übersehende Schwächen, so haben Befindlichkeitsstörungen und funktionelle Erkrankungen kaum einen Platz in diesem System, bei dem der menschliche Körper eher wie eine Maschine interpretiert wird, die Krankheit als Betriebsschaden aufgefasst und der Körper wird bei technischen Störungen repariert wird. Auch die diesem System entsprechenden äußeren Bedingungen haben mit einer zunehmenden Technisierung der Medizin die Grenzen des biomedizinischen Krankheitsbilds aufgezeigt. Darüber hinaus ist bei der pathogenetischen Betrachtungsweise die Festlegung der Grenze zwischen „normalen“ und „pathologischen Werten“ problematisch, da die sich daraus ergebende Dichotomisierung zwischen „sicher gesund“ und „sicher krank“ zu einem Reduktionismus des menschlichen Lebens führt. Auch gilt nicht immer das Normale (entlang der Verteilung von Merkmalen in der Normalbevölkerung) als gesund, heute werden zunehmend Referenzwerte für gesunde Merkmale (vgl. systolische Blutdruckwerte, Plasma-Lipidwerte etc.) weit außerhalb ihrer Normalverteilung definiert, was große Gruppen der Bevölkerung automatisch – per definitionem – zu „Kranken“ macht.
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts haben sich aber auch Gesundheitsmodelle entwickelt, die primär den Begriff der Gesundheit und nicht der Krankheit in den Mittelpunkt stellen (Franke 2012). Diese Modelle werden häufig als salutogenetische Modelle bezeichnet, die für die Entwicklung der Integrativen Medizin von größter Bedeutung sind (Franke 2012): Vom Begründer der Salutogenese, dem Medizinsoziologen Aaron Antonovsky, wird die Salutogenese, die Lehre bzw. Erforschung von Faktoren und Prozessen, die die Gesundheit erhalten und fördern, bewusst dem Begriff der Pathogenese, der Lehre bzw. Erforschung von Faktoren und Prozessen, die die Krankheit erzeugen oder verlängern, gegenüber gestellt. Antonovsky weist darauf hin, dass die Pathogenese und die Salutogenese eine komplementäre Beziehung bei der Betrachtung von Gesundheits- und Krankheitsprozessen eingehen (s. Abb. 1).
Abb. 1 Integration von Pathogenese und Salutogenese entlang des Gesundheits-Krankheits-Kontinuums. Linke Säule: Pathogenetische Perspektive (Fokus auf Risikofaktoren bzw. Krankheiten). Rechte Säule: Salutogenetische Perspektive (Fokus auf Schutzfaktoren/Widerstandsressourcen bzw. Gesundheit) (Esch 2017)
Das Modell der Salutogenese von Antonovsky geht von der Annahme aus, dass Gesundheit und Krankheit zwei Pole eines Kontinuums sind, auf dem sich der Mensch befindet, so, dass folglich Krankheit eine normale Erscheinung des menschlichen Lebens ist. Aus der Sicht der Salutogenese gelingt das Verständnis des Krankheitsprozesses und somit eine optimale Therapie bzw. eine Gesundheitskorrektur nur durch ein möglichst breites Wissen über den Menschen, insbesondere auch über die Möglichkeit, krankmachende Stressoren und Belastungen zu meiden sowie gesundmachende Faktoren und Prozesse zu stärken (Gesundheitsschutzfaktoren). Ein wichtiger Bereich, der einen konstruktiven Umgang mit Stressoren ermöglicht, sind hier auch die „generalisierten Widerstandsressourcen“. Diese ergeben sich einerseits aus gesellschaftlichen Widerstandsressourcen – den Bedingungen, in denen der Mensch lebt – und andererseits aus den individuellen Widerstandsressourcen – z.B. den kognitiven, physiologischen, psychischen und materiell-ökonomischen Ressourcen. Entscheidende Bedeutung misst Antonovsky dem sogenannten Kohärenzgefühl (engl. Sense of Coherence, SOC) bei, das eine Hauptdeterminante dafür ist, welche Position der Mensch auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum hat, als auch die Richtung mitbestimmt, in welche der Mensch sich auf einen der Pole zubewegt (Antonovsky 1997). Das Kohärenzgefühl ist definiert als „eine globale Orientierung“, die ausdrückt, in welchem Ausmaß der Mensch ein durchdringendes, andauerndes und dennoch dynamisches Gefühl des Vertrauens hat, dass 1. die Stimuli, die sich im Verlauf des Lebens aus der inneren und äußeren Umgebung ergeben, strukturiert, vorhersehbar und erklärbar sind, 2. einem die Ressourcen zur Verfügung stehen, um den Anforderungen, die diese Stimuli stellen, zu begegnen und 3. die Anforderungen Herausforderungen sind, die Anstrengungen und Engagement lohnen (Antonovsky 1997). Antonovsky identifiziert dazu drei Teilkomponenten Verstehbarkeit, Handhabbarkeit und Bedeutsamkeit, die zum Kohärenzgefühl entscheidend beitragen sollen. Verstehbarkeit ist dabei das Ausmaß, in dem interne und externe Stimuli kognitiv erfasst werden. Handhabbarkeit ist das Ausmaß, in dem der Mensch über Ressourcen verfügt, um auf die Stimuli reagieren zu können, und Bedeutsamkeit ist das Ausmaß, in dem dem eigenen Leben ein Sinn, eine Bedeutung zugeschriebenen wird (Franke 2012). In der aktuellen Forschung auch zu Resilienzmodellen und Persönlichkeits-Gesundheits-Kontexten – jenseits der Integrativen Medizin – spielt das Kohärenzgefühl weiterhin eine große Rolle, wobei nach Faktorenanalysen heute die Validität einer Auftrennung in die drei beschriebenen Teilkomponenten hinterfragt wird.
Im Modell von Antonovsky stehen die Reaktionen des Körpers auf Stressoren im Vordergrund, andere wichtige Faktoren wie Vertrauen, Liebe, Fantasie und Gemeinschaft spielen eher eine geringe Rolle. Neben dem Modell der Salutogenese hat sich u.a. auch das Resilienz-Modell etabliert, das die körperliche, v.a. aber psychische und seelische Widerstandsfähigkeit des Menschen bezeichnet, auf schwere Lebensereignisse – wie z.B. eine Krebserkrankung – zu reagieren und sich somit krankmachenden Prozessen entgegen zu stellen (Ludolph, Kunzler et al. 2019). Die Resilienzforschung sucht Faktoren, die dazu führen, dass der Mensch sich auf dem Gesundheit-Krankheitskontinuum eher auf der Seite der Gesundheit befindet.
Das salutogenetische Modell führt zu einem dringlich notwendigen Paradigmenwechsel in der Medizin bzw. Gesundheitswissenschaften. Der die konventionelle Medizin aktuell noch primär tragende pathogenetische Ansatz wird fruchtbar ergänzt durch den salutogenetischen Ansatz, der insbesondere dem präventivmedizinischen und dem naturheilkundlichen bzw. ressourcenorientierten Denken entspricht und an zentraler Stelle das Selbsthilfe- und Selbstheilungspotenzial des Patienten adressiert (Esch 2018).