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1. Wirklich eine Einöde: Die ökonomische Lage im Raum Oberhausen zu Beginn der industriellen Entwicklung
ОглавлениеAls „wüste Haide“, „Einöde“ oder „trostlose Gegend“ beschrieben Reisende die Region, in der später die erste Eisenhütte des Ruhrgebiets entstehen sollte. Damit stellt sich die Frage: Wie sah die Region, die sich heute „Wiege der Ruhrindustrie“ nennt, vor dem Beginn des industriellen Zeitalters aus? Und weiter: Wovon lebten die Menschen in der Zeit, als sie noch nicht in die Zechen oder Hüttenwerke strömten?
Mehrere Beschreibungen geben in der Zeit zum Beginn des 19. Jahrhunderts ein anschauliches Bild von der Landschaft rund um das spätere Oberhausen. Sie lassen ahnen, wie beschwerlich der Alltag der wenigen Bewohner gewesen sein muss. 1794 fuhr Christian Friedrich Meyer von Borbeck nach Wesel und traf auf eine unwirtliche Landschaft, die er in seinen 1797 veröffentlichten „Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen“ beschrieb:
„In der Gegend von Starkrat fangen die großen, wüsten Haiden an, welche bis eine Stunde vor Wesel fortlaufen, und den nicht mindesten Menschenfleiß zu ihrer Verbesserung anzeigen. Gleich einer Wüste Arabiens, allwo die nach Mekka wallfahrende muhamedanische Karavane nichts, als unbebaute wüste Blößen antrifft, so trifft man in dieser Gegend äußerst selten etwas anders als Reisenden. Der schlechte Sandgrund dürfte wohl bisher einen jeden abgehalten haben, eine vernünftige, zweckmäßige Verbesserung in der Benutzung zu befangen.“1
Ähnlich äußerte sich auch Pierre-Hippolyte-L. Paillot in seinem Tagebuch eines Emigranten. Paillot, der 1794 als Flüchtling vor der Französischen Revolution an den Rhein und an die Ruhr kam, fiel der Unterschied zwischen seiner Heimat, dem ökonomisch weit entwickelten Norden Frankreichs, und der öden Gegend nördlich der Ruhr besonders auf. Entsprechend drastisch fällt seine Beschreibung einer Fahrt von Duisburg nach Dorsten aus, bei der er durch die Gegend des späteren Oberhausens gekommen sein muss:
Abb. 1: Titelblatt des Bandes „Ansichten einer Reise durch das Clevische und einen Theil des Holländischen …“ von Christian Friedrich Meyer (1797)
„Etwa eine Stunde nach der Überfahrt [über den Rhein, B. Z.] fuhren wir durch eine weite Heidelandschaft, die sich bis Dorsten zog. Allein ein kleiner Weiler [möglicherweise Sterkrade, B. Z.] konnte diese Eintönigkeit durchbrechen. Dort war ein schönes Wirtshaus, in dem wir einen Halt zum Abendessen machten. Da es das einzige auf dieser Straße war, standen dort sehr viele Wagen, die den Weg sogar versperrten. In der Nähe waren mehrere Schmieden, die ich mir gern angesehen hätte, wenn ich Zeit gehabt hätte, aber wir brachen sofort auf und fuhren wieder durch diese Heide, die einem nur Wehmut einflößen konnte. Bis ins unendliche waren nur vereinzelte, absterbende Bäume zu sehen, sowie Sandhaufen, die vom Winde weggeweht wurden und die sich zwischen einigen Wacholderbäumen und dürrem Gras ausstreckten. Selten sahen wir ein paar Strohhütten, von armen Bauern bewohnt, die das Gras mähten, um daraus ihr Feuer zu machen. Wir fuhren die Höhen hinauf in der Hoffnung, einen angenehmeren Horizont zu entdecken. Es blieb, wie es war. So weit das Auge reichen konnte, war keine Spur von Ackerbau zu sehen. Das war wirklich eine Einöde.“2
Bis in die 1820er Jahre hinein änderte sich nicht viel am Zustand dieser Landschaft. So konnte auch die westfälische Dichterin Annette von Droste-Hülshoff in ihren 1824 verfassten „Westfälischen Skizzen und Landschaften“ über die Gegend nur feststellen:
„Eine trostlose Gegend! Unabsehbare Sandflächen, nur am Horizonte hier und da von kleinen Waldungen und einzelnen Baumgruppen unterbrochen. Die von Seewinden geschwängerte Luft scheint nur im Schlafe aufzuzucken. Bei jedem Hauche geht ein zartes, dem Rauschen der Fichten ähnliches Geriesel über die Fläche und säet den Sandkies in glühenden Streifen bis an die nächste Düne, wo der Hirt in halbsomnambuler Beschaulichkeit seine Socken strickt und sich wenig um uns kümmert, wie sein gleichfalls somnambuler Hund und seine weidenden Heidschnucken.
Schwärme badender Krähen liegen quer über dem Pfad und flattern erst auf, wenn wir sie fast greifen können. […] Aus einzelnen Wacholderbüschen dringt das klagende möwenartige Geschrill der jungen Kiebitze, die wie Tauchervögel im Schilf in ihrem stacheligen Asyle umschlüpfen und bald hier bald drüben ihre Federbüschel hervorstrecken. Dann noch etwa jede Meile eine Hütte, vor deren Tür sich ein paar Kinder im Sande wälzen und Käfer fangen und allenfalls ein wandernder Naturforscher, der neben seinem überfüllten Tornister kniet und lächelnd die zierlichen versteinerten Muscheln und Seeigeln betrachtet, die wie Modelle einer früheren Schöpfung verstreut liegen – und wir haben alles genannt, was eine lange Tagesreise hindurch eine Gegend belebt, die keine andere Poesie aufzuweisen hat, als die einer fast jungfräulichen Einsamkeit und einer weichen traumhaften Beleuchtung.“3
Noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts herrschten also in der Region des späteren Oberhausens Heide- und Waldflächen vor, die von moorartigen Gebieten durchbrochen wurden. Die Region war weitgehend unbesiedelt, von einigen kleineren Orten wie Sterkrade, Osterfeld und Holten abgesehen. Die dort wohnenden Menschen lebten vor allem von Holz-, Streu- und Weidenutzung oder Plaggenwirtschaft – eine landwirtschaftliche Betriebsweise, bei der Rasenteile vermischt mit Viehmist zur Düngung des Bodens verwendet wurden. Teilweise hatten sie sich für diese Arbeiten genossenschaftlich organisiert. Nur bei Holten und nach Süden zur Ruhr in den Bereichen um Lirich, Lipppern, Styrum und Alstaden nahm der Anteil der Ackerflächen etwas zu. Hier konnte von Bauern und Köttern Ackerbau betrieben werden, auch wenn es sich in Emschernähe um schwere, nicht besonders fruchtbare Böden handelte.4 Als weitere Erwerbsmöglichkeit kam die Viehhaltung hinzu, die jedoch durch die wenig fruchtbaren Böden ebenfalls sehr eingeschränkt war. Aus den agrarischen Tätigkeiten resultierten kleinere Gewerbe wie die Schnapsbrennerei – besonders aus den Beeren des weit verbreiteten Wacholderstrauches – und die Brauerei. Auch mehrere Mühlen konnten in der Umgebung als agrarisches Nebengewerbe existieren.
Das Handwerk war ebenfalls weitgehend agrarisch orientiert. Zusätzliche Verdienstmöglichkeit dürften den Handwerkern aber auch die verschiedenen Adelssitze und das Kloster in Sterkrade geboten haben. Für Holten ist ab 1740 vorübergehend das Tuchmachergewerbe bedeutend. Maximal 51 Arbeiter saßen 1787 als Heimarbeiter für Manufakturbetriebe aus dem Duisburger Raum an Webstühlen, vermutlich im Nebengewerbe. Mit der Industrialisierung der Weberei ging die Zahl der betriebenen Webstühle aber schon zu Beginn des 19. Jahrhunderts wieder rasch zurück. 1820 waren für Holten nur noch zehn Tuchmacher verzeichnet.5 Der amtliche Zeitungsbericht der Stadt Holten stellte dann im Mai 1831 fest: „Die Tuchfabriken in dem Städtchen Holten sind ihrer gänzlichen Auflösung nahe […]“6