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4. Anstand als gelebtes Ideal: Höflichkeit

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Die Trennung, die ein ehrlicher Heuchler ohne weiteres eingesteht, indem er sich unter allergrößtem Bedauern der Inkonsequenz in Fragen der Moral bezichtigt, praktiziert er allerdings in der Gewissheit, dass es ohne nicht geht, in allen Angelegenheiten. So wenig der Anstand die Verkehrsformen der Leute untereinander bestimmt, so sehr gehorchen sie dem heuchlerischen Bedürfnis nach wechselseitiger Anerkennung jenseits der wirklichen Zwecke, die sie zusammenführen. Der Anstand, wenn schon nicht als solcher durchzuhalten, wird als Ideal gelebt: wo jeder meint, mit dem Nachweis der Berechtigung all dessen, was er will, seinem Interesse den Durchbruch zu ermöglichen; wo umgekehrt jeder auf die Prüfung seines Anliegens gefasst sein muss, sich zu rechtfertigen hat bezüglich seiner Ansprüche – bewegen sie sich 1. in erlaubten Bahnen?, 2. stehen sie ihm als Verdienst zu?, also im Klartext: 3. kommt er mir nicht in die Quere? –, da fehlt es nicht an Höflichkeit. Jede Form von Abhängigkeit, jeder Gegensatz von Interessen wird zu einer Frage des Benimms, der darüber entscheidet, ob einem überhaupt Gehör zuteil wird. In den Techniken des guten Tons lassen sich die Individuen getrennt von allem, was sie miteinander zu tun haben, vorhaben und von anderen wollen, ihre prinzipielle Anerkennung zuteil werden.

Von anderen erwarten sie die Respektsbezeugung quasi als Versprechen darauf, dass sie nichts Unanständiges im Schilde führen, und bekennen sich selbst in der Einhaltung und Beherrschung der Anstandsregeln zur Moral, zur Selbstkontrolle als Ritual; dessen Befolgung erscheint als die conditio sine qua non für jeglichen Erfolg. Dennoch garantiert der Hut in der Hand noch lange nicht, dass man durch das ganze Land kommt. Dass die Höflichkeit zur Bedingung für die Berücksichtigung eines Interesses gemacht wird, heißt eben nicht, dass sie die Brauchbarkeit einer Leistung für andere ersetzt. Es kommt eben sehr darauf an, was einer nach erfolgter Begrüßung und außer seiner korrekten Kleidung und Rasur noch „zu bieten“ hat – eine Weisheit, die nicht selten Leute in Erinnerung bringen, die berufsmäßig mit anderen als dem Material ihres wirtschaftlichen und politischen Erfolgs umgehen. Zur Institutionalisierung des berechnend-freundlichen Umgangs, den schon Kinder wie das Einmaleins beigebogen bekommen, gehört nicht nur der Generalverdacht, dass vielleicht gar nichts „dahinter“ ist, sondern auch die Freiheit, nach gesellschaftlicher Stellung sehr unterschiedlich auf dem „Protokoll“ zu beharren. Während Politiker und Unternehmer, aber auch Lehrer und Meister gewaltigen Wert darauf legen, dass ihre Untergebenen ein tadelloses Benehmen an den Tag legen, können sie sich selbst der rüdesten Manieren befleißigen, ohne auf Kritik – außer hinter vorgehaltener Hand – zu treffen. Wenn es solchen Leuten beliebt, können sie sich auf Grundlage ihrer Stellung sogar beliebt machen mit einem unkonventionellen „Stil“, also ganz souverän nichts „auf Äußerlichkeiten“ geben und für lockere Töne plädieren. Umgekehrt ist das weniger leicht: so hat manche Übertretung in Sachen „Takt“ an Hochschulen und auch sonst bei der Ankunft hoher Herrn sehr schnell den Abbruch der diplomatischen Beziehungen zur Folge, wenn nicht sogar den Einsatz der Ordnungskräfte. Für minder bemittelte und auf ihre Brauchbarkeit angewiesene Menschen ist es jedenfalls auch im 20. Jahrhundert ratsam, sich an der ursprünglichen Bedeutung von Grußworten wie „Servus“ und „Ciao“ zu orientieren und die Tonart anzuschlagen, die ihnen zusteht. An Flugblattverteilern und Bedienungen können sie sich dann die Kompensation verschaffen, die ihr ansonsten stark gebremster Materialismus benötigt.

Die Psychologie des bürgerlichen Individuums

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