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Teil I:
Das moralische Individuum – Wie funktioniert ein abstrakt freier Wille?

„... und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören.“ (Hegel)

Das Abstrahieren gilt mit Recht als eine selbstverständliche Tätigkeit verständiger Individuen. Wenn wir die Bestimmungen einer Sache voneinander scheiden, so wissen wir sehr wohl, dass die von uns wahrgenommenen Teile, Unterschiede, Eigenschaften und Momente gerade in ihrer Einheit den theoretisch interessierenden Gegenstand ausmachen. Wenn wir nach der Sonderung der verschiedenen Seiten zum Urteilen und Schließen fortgehen, dann ist es uns um den Zusammenhang des getrennten Arsenals von gefundenen Bestimmungen zu tun, und dies nicht in Form einer Aufzählung, sondern logisch. Das Wie und Warum führt uns zur Einsicht in die Beschaffenheit, zum Grund dafür, dass der Gegenstand unserer denkenden Bemühung so und nicht anders vorliegt, funktioniert und wirkt. Über Abstraktionen kommen wir Gesetzen und Zwecken auf die Spur, die in Natur und Gesellschaft gelten und sich durchsetzen. Wenn dabei Fehler gemacht werden, so sind sie an den logischen Widersprüchen der Theorien kenntlich. Im Nachvollzug von Argumenten ermitteln wir deren Stimmigkeit oder Falschheit, auch die Berechtigung von Abstraktionen. Gelegentliche Irrtümer unterscheidet man von Fehlern, deren „konsequente“ Fortsetzung in den modernen Geistes- und Gesellschaftswissenschaften zu ganzen Theoriegebäuden herangereift ist und sich stets Interessen verdankt, die den Gegenstand des Denkens parteilich zu bestimmen gebieten, ihn auf allerlei fromme und weniger fromme Absichten beziehen lassen und die Urheber der Theorien zu Behauptungen über die Eigenart ihres Gegenstandes beflügeln, die mit dessen Grund und Zweck partout nichts zu tun haben. Aber der Zustand der modernen Wissenschaft, ihre keiner Objektivität verpflichteten Abstraktionen sind kein Einwand gegen das Abstrahieren und kein Anlass für die Verdammung des „abstrakten Denkens“, mit dem manchem kritischen Geist zufolge das Böse in die Welt gekommen sein soll. „Abstrakt“ und „konkret“ sind für sich genommen zwei ganz unschuldige logische Kategorien, und ihre im vulgärwissenschaftlichen Volksmund übliche Verwendung für schlecht und gut, tot und lebendig, unwirklich und furchtbar real ist dumm, weil ein Argument gegen das Denken – also immer eine contradictio in adiecto.

Über theoretische und praktische Abstraktionen

Seit Hegel gibt es die Redeweise von Abstraktionen, die in der Wirklichkeit geltend gemacht werden oder praktisch vollzogen sind. Marx hat kein Problem darin gesehen, gewisse von ihm entdeckte Gepflogenheiten des bürgerlichen Lebens ebenso zu kennzeichnen. Im Geld ermittelte er die abstrakte Form des Reichtums, wie er für die kapitalistische Produktionsweise charakteristisch ist: getrennt von allem wirklichen Reichtum existiert der Wert selbständig und im Gegensatz gegen den Gebrauchswert, seine Grundlage, die ihm und seiner Vermehrung zum Opfer fällt (Krise); in der Lohnarbeit sah er die Verausgabung von abstrakter Arbeit, die dem Zweck der Kapitalverwertung dient und auf der Trennung des Arbeiters von den Mitteln der Arbeit beruht, den Lohnarbeiter zur lebenslangen Funktion einer Arbeitskraft erniedrigt, die sich den Konjunkturen des Kapitals – so tritt der gegen die Produzenten verselbständigte Reichtum auf – entsprechend verschleißt und ihre Selbsterhaltung ständig in Frage stellen lassen muss. An den beiden angeführten Fällen wird deutlich, dass „Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend gemacht“ nicht gerade die gemütlichsten Sachverhalte darstellen: da wird die Trennung gewisser Leute von den ihnen eigentümlichen, ihren Existenzbedingungen praktiziert – eine Angelegenheit, die mit theoretischem Abstrahieren schwerlich zu machen ist, und sei es noch so falsch. In der Welt der kapitalistischen Warenproduktion ist das Geld das Mittel, an sämtliche Gegenstände des Bedarfs wie Genusses heranzukommen, und eben dieses Mittel beschränkt eine ganze Klasse in dem Bemühen, des gesellschaftlichen Reichtums teilhaftig zu werden. Der Ausschluss von den Produktionsmitteln, die als fremdes Eigentum Mittel ihrer gewinnbringenden Anwendung sind, verweist die Lohnarbeiter auf Arbeit fürs Kapital als den Weg, ihren Lebensunterhalt zu bewerkstelligen – und in der Verrichtung und den Folgen dieser Arbeit gewahrt er, dass erstens seine Kasse immer leer bleibt, zweitens die kontinuierliche Zerstörung seiner Arbeitskraft stattfindet – weil die Reduktion auf die für das Kapital erforderlichen Dienste so einem Menschen gar nicht gut bekommt – und drittens seine bloße Beschäftigung noch nicht einmal garantiert ist.

Vom untertänigen Gebrauch des freien Willens

Mit den ökonomischen Verhältnissen des Kapitalismus, also all den Verlaufsformen, die eine reale, praktisch an leibhaftigen Individuen vollzogene Abstraktion aufweist, befasst sich die Ökonomie; mit der Gewalt, die zur Aufrechterhaltung des ökonomischen Betriebs dieser Sorte vonnöten ist, die Theorie des bürgerlichen Staates, der politischen Herrschaft, die darüber wacht, dass sich die Betroffenen auch immer alles ganz manierlich gefallen lassen. Wie es die Nutznießer und vor allem die Opfer von kapitalistischer Ökonomie und bürgerlicher Politik anstellen, dass sie den ihnen zugestandenen freien Willen nicht anders handhaben als zum angestrengten Mitmachen, davon handelt eine Psychologie des bürgerlichen Individuums. Eine solche Theorie leugnet nicht die Freiheit der modernen Demokratie und ihrer Opfer, also auch nicht den freien Willen, von dem schon Hegel zu Recht bemerkt hat, dass seine Bezeichnung ein Pleonasmus ist; sie klärt, worin die Freiheit besteht, wie schäbig sie beschaffen ist und welchen hohen Zwecken – mit den kleinlichen Interessen gewöhnlicher Leute hat sie in der Tat wenig zu tun – sie entspricht. Allerdings erklärt eine Psychologie dieser Art nicht noch einmal Mehrwert, Stücklohn, fixes Kapital und Zins, auch nicht den Rechtsstaat, dessen Finanzhoheit und Parlament, sondern eben – weil sie Psychologie ist – die subjektiven Prozeduren, das, was ein frei entscheidendes Subjekt in seinen Gefühlen, Anschauungen und Gedanken leistet, um seine Unterwerfung unter den kapitalistischen Zirkus, sein Mitmachen, immerzu als alleiniges und wohlbegründetes Werk seines Willens erscheinen zu lassen. Psychologie des bürgerlichen Individuums ist diese Wissenschaft darin, dass sie nicht die formellen Bestimmungen der Subjektivität in ihrer Allgemeinheit, wie sie auch zu anderen Zeiten und in anderen Umständen entwickelt sind, herunterleiert: sie erklärt den bestimmten Gebrauch, den Leute in der kapitalistischen Produktionsweise von ihrem Verstand machen, die besondere Sorte von Gefühlen, deren Inhalt, wie er hier und heute normal ist. In Gestalt einer Ableitung vorgetragen, befasst sich vorliegende Schrift mit der Verlaufsform des Widerspruchs, der im Begriff des abstrakt freien Willens gefasst wird: Wie bringt es ein (freier) Wille fertig, seine eigenen Voraussetzungen: Gefühl, Bewusstsein, Sprache, Verstand so einzurichten, dass er sich aufgibt? Wie gelingt es Individuen, die per Ausbildung zu allerlei Kenntnissen und Fertigkeiten angehalten werden, damit sie im bürgerlichen Getriebe durch allerlei Leistungen ihr Interesse realisieren können – oder umgekehrt ausgedrückt: damit sie sich aus ihrem Interesse heraus nützlich machen –, mit allen Beschränkungen des Kapitalismus und der modernen Demokratie fertig zu werden und brav dabei zu bleiben? Um die Beantwortung dieser Frage ist es zu tun, was nicht zu verwechseln sein dürfte mit der Klärung einer ganz anderen, welche die bereits erwähnten Theorien über die kapitalistische Ökonomie und die ihr entsprechende politische Herrschaft erledigen: Warum geht es so zu? Wer in den moralischen und psychologischen Techniken der Individuen den Grund für Nudel-, Auto- und Rüstungsproduktion, für den Bau von U-Bahnen, Stauseen und Schulen ausmachen will, hat bestenfalls ein Menschenbild, das dann als Subjekt von allen Entscheidungen und Werken fungiert, die so zustandekommen. Dass irgendetwas passiert, weil die Menschen „so sind“ und Subjektivität bei der Gattung homo sapiens nun einmal „so beschaffen“ ist, blamiert sich als Erklärung schon vor der schlichten Tatsache, dass die Subjekte der Entscheidungen, die den Globus so wohnlich machen, ganz andere sind als die, welche dann zu Werke gehen müssen und die idiotischsten Meinungen darüber als ihre Freiheit feiern...

Freilich ist damit nicht gesagt, dass die objektiven Verhältnisse, in denen sich das moderne Individuum so furchtbar individuell gibt, nicht zur Sprache kommen. Als das, woran es sich anpasst, worin es sich bewähren will, kommt der bürgerliche Zirkus immerzu vor – selbst im ersten Teil, wo in getreuer Befolgung des Prinzips „vom Abstrakten zum Konkreten“ die allgemeinen, immerzu präsenten, weil „befolgten“ Grundsätze bürgerlich-freien Gehorsams analysiert werden, sind die gegenwärtig im Amt befindlichen Subjekte der Geschichte, Kapital und Staat, nicht ganz vergessen worden. Einerseits erscheinen sie als die Voraussetzung für das schlechte Benehmen auch der „Volksmassen“, die nicht nur Brecht per Gedicht zum „eigentlichen“ Subjekt küren wollte. Andererseits lässt sich das falsche Bewusstsein samt seinen Winkelzügen auch in seinen noch so abstrakten Bestimmungen nicht darstellen ohne Erwähnung der gesellschaftlichen Verhältnisse, für die es notwendig ist. So gut es allerdings ging, haben wir die Erinnerung an das, womit sich so ein Subjekt herumschlägt, im Dunkeln belassen, und zwar ganz einfach im Interesse der (zum letztenmal:) abstrakten, von ihrer Durchführung noch „unberührten“ Bestimmung der armseligen „Bewegungsgesetze“ der heutigen Seele.

© 2018 Gegenstandpunkt Verlag

Die Psychologie des bürgerlichen Individuums

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