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Gründe für die unterschiedliche Wahrnehmung und Behandlung Scientologys in Deutschland und den USA

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Die USA können ohne Zweifel als das Mutterland der Religionsfreiheit betrachtet werden, welche eine überragende Bedeutung im amerikanischen Staats- und Gesellschaftsmodell einnimmt. Denn der Wunsch, die eigene Religion ohne Furcht vor Repressalien und Verfolgung ausüben zu können, stellt schließlich einen der Gründe dar, warum vornehmlich Europäer bereits im 17. Jahrhundert ihr Heimatland verließen und in die Neue Welt auswanderten. Eben aus dieser europäischen Erfahrung heraus, war es für die Founding Fathers ein zentrales Anliegen, die Religionsfreiheit als fundamentales Gut zu schützen und Staat und Kirche zu trennen. Nicht umsonst wird bereits im ersten Satz des ersten Artikels der Bill of Rights aus dem Jahr 1791 sowohl die Errichtung einer Staatsreligion, wie sie in Europa noch lange danach Bestand haben sollte, als auch die Einschränkung der Religionsausübung verboten: „Congress shall make no law respecting an establishment of religion, or prohibiting the free exercise thereof.“

Es ist eben diese historisch fest verankerte Religionsfreiheit, die die Amerikaner aufhorchen und gegebenenfalls auch aufschreien lässt, wenn anderenorts die freie Religionsausübung eingeschränkt wird oder bedroht erscheint. Dass amerikanische Maßstäbe dabei nicht vorbehaltlos in anderen Ländern angelegt werden können und Staaten wie Deutschland aus ihrer eigenen historischen Erfahrung heraus einen vorsichtigeren Umgang mit möglicherweise demokratiefeindlichen Gruppen pflegen, wird hier manchmal übersehen. Allerdings gibt es sehr wohl Amerikaner, die sich dieses Umstandes bewusst sind, wie folgender Kommentar von Philip Terzian, dem Herausgeber des Providence Journal, beweist, den er als Reaktion auf die Kritik des amerikanischen Außenministeriums an der Beobachtung Scientologys durch den deutschen Verfassungsschutz schrieb:

„[...] the truth is that German regulations [...] are designed to preserve German democracy, which cults like Scientology are likely to weaken. Americans understand the value of freedom in the world, but they do not necessarily appreciate cultural distinctions. The Germans are probably better equipped to judge how best to nurture their free society than bureaucrats at the Office of the U. S. Trade Representative. Everyone in the world wants to be free, but not everybody yearns to be American.“28

Die teils heftige Reaktion von amerikanischer Seite auf mögliche Einschränkungen der Religionsfreiheit, auch in anderen Ländern, ist zudem auf die hohe Bedeutung von Religion im Alltag und ihrer zivilgesellschaftlich integrierenden Funktion in den USA zurückzuführen. So glauben 60 Prozent der Amerikaner an einen persönlichen Gott und 29 Prozent an ein höheres Wesen. 39 Prozent gehen mindestens einmal pro Woche in die Kirche.29 Diese Zahlen haben sich in den letzten 50 Jahren kaum verändert und unterscheiden sich nur bedingt zwischen Jung und Alt. In Deutschland hingegen haben Glauben und Glaubenspraxis deutlich an Bedeutung verloren. Hierzulande glauben nur noch 47 Prozent an einen Gott und 25 Prozent an ein höheres Wesen.30 Unter den Jugendlichen sind es gar nur 23 Prozent, wie die Shell Jugendstudie aus dem Jahr 2010 ergab. Mindestens einmal pro Woche in die Kirche gehen über alle Altersgruppen hinweg noch 9 Prozent.31 Zudem hat Religion für die Amerikaner in ihrem eigenen Alltag eine sehr große Bedeutung. Auf einer Skala von 1–10 räumen 59 Prozent der Amerikaner der Religion den höchsten Stellenwert (10) für sie persönlich ein, in Deutschland sind dies gerade einmal 11 Prozent. Deshalb darf es nicht überraschen, wenn Amerikaner Eingriffe in die Religionsfreiheit als etwas sehr persönliches und unzulässiges erachten.

Doch sind es nicht nur die traditionell fest verankerte Religionsfreiheit und die hohe Bedeutung von Religion im Alltag, die in den USA zu einem toleranteren Umgang mit Scientology führen. Auch die religiöse Vielfalt spielt eine entscheidende Rolle. Als Einwanderernation, die schon früh Menschen aus allen Erdteilen anzog und ihnen gestattete, ihre Religion frei zu praktizieren, existierten in den USA bereits zu Mitte des 19. Jahrhunderts die unterschiedlichsten Religionen nebeneinander. Das heißt nicht, dass es keine religionsbedingten Vorurteile, Misstrauen und teils auch Diskriminierung gegeben hätte oder gibt, doch hat die vorhandene Vielfalt zu einer grundsätzlich höheren Toleranz gegenüber anderen Religionen geführt. Deutschland hingegen war bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg – mit Ausnahme der Juden – nahezu ausschließlich geprägt durch die beiden großen christlichen Kirchen. Erst in den 60er Jahren kamen aufgrund des Anwerbungsabkommens mit der Türkei zunehmend Moslems ins Land, in den 90er Jahren mit dem Ende des Kalten Kriegs orthodoxe Christen. Diese traditionell nur geringe Vielfalt führt hierzulande zu einer wesentlich größeren Skepsis gegenüber neuen religiösen Gruppierungen, die zudem aufgrund ihrer geringeren Zahl stärker exponiert sind. Anders in den USA – dort bedingt der religiöse Pluralismus unweigerlich, dass kleineren Religionsgemeinschaften keine besondere Aufmerksamkeit geschenkt wird, da sie bei etwa 1500 religiösen Gruppen eben nur eine Gruppe unter vielen darstellen. Das gilt auch für Scientology.

Schließlich spielt ein grundsätzlich anderes Verständnis der Beziehung zwischen Bürger und Staat in beiden Ländern eine entscheidende Rolle für die jeweils unterschiedliche Behandlung Scientologys. Aufgrund des stark ausgeprägten Liberalismus in den USA herrscht dort die Überzeugung vor, dass sich der Staat in höchstmöglichem Maße aus dem Leben der Bürger herauszuhalten habe. Eine gesellschaftliche Bedrohung wird somit nicht in einzelnen Gruppen, auch solcher religiöser Natur, gesehen, sondern in einem Staat, der zu sehr in die Privatsphäre eingreift. In Deutschland verhält es sich genau umgekehrt. Hierzulande existiert eine starke Staatsorientierung, und es wird als zentrale Aufgabe des Staates erachtet, den Bürger in allen Lebensbereichen zu schützen; auch davor, sich als bedrohlich eingestuften Gruppen anzuschließen. Für den Amerikaner würde ein solches Vorgehen einen unzulässigen Eingriff in die Privatsphäre darstellen, da in den USA grundsätzlich vom enlightened citizen ausgegangen wird, der in der Lage ist, die Konsequenzen seines Handelns abzusehen, aber auch die Verantwortung dafür tragen muss. Hier ist es also das „gute Recht“, sich zweifelhaften Organisationen anschließen zu dürfen, selbst wenn dies möglicherweise in eine psychische Abhängigkeit führt oder eine enorme finanzielle Belastung bedeutet.

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