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DIE GRÜNDUNG DES NATIONALEN NETZES: NEUE STANDARDS UND HIERARCHIEN
ОглавлениеDas angestiegene Interesse innerhalb der Naturforschenden Gesellschaft Graubündens an den meteorologischen Beobachtungen stand in Zusammenhang mit dem ab 1860 laufenden Projekt eines landesweiten Beobachtungsnetzes. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft richtete mit finanzieller Unterstützung des Bundesstaats landesweit 88 Stationen ein und schuf in Zürich die Meteorologische Zentralanstalt, welche die Tabellen ab Dezember 1863 sammelte, kontrollierte und publizierte. Im Grund verfolgten die Organisatoren des schweizerischen Netzes dasselbe Ziel wie Brügger: eine Klimastatistik für ein bestimmtes Gebiet auf der Grundlage von mehrjährigen, synchronen Messungen mit abgeglichenen Instrumenten. Die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft sah die Chance eines landesweiten Beobachtungsnetzes hauptsächlich darin, über viele und vergleichbare Daten zu verfügen. Mit den Beobachtungsresultaten der 88 Stationen sollte die Wirkung der Topografie, insbesondere der Alpen, auf das Wetter untersucht werden.37 Die Projektkoordination und Verwaltung der Daten lag in den Händen der Zentralanstalt, die eine grosse Datenmenge, über 1000 Monatstabellen pro Jahr, zu verwalten hatte. In der Zentralanstalt wurden die einzelnen lokalen Wetterdaten zu Puzzleteilen eines grossen Ganzen, des Schweizer Klimas. Die solcherart kreierte Vorstellung eines schweizerischen Naturraums wurde als Beitrag zur Schaffung einer nationalen Identität gesehen. So bezeichnete die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft ihr meteorologisches Projekt als «wahrhaft patriotisch» und sprach von einem «grossen vaterländischen Unternehmen».38 Auch Brügger hatte sein Projekt als patriotisches Handeln verstanden, nur war der Bezugsrahmen nicht die Nation, sondern der Kanton, sein «theures Heimathland Graubünden», gewesen.39
Abb. 4: Der Knotenpunkt des nationalen Netzes war die Meteorologische Zentralanstalt, die sich bis 1880 im zweiten Obergeschoss der Sternwarte in Zürich befand. Sie erhielt pro Jahr über 1000 Beobachtungstabellen aus der ganzen Schweiz zugesandt. Undatierte Fotografie.
Das nationale Projekt war für die Bündner eine Chance, sich als Vorreiter zu profilieren, denn neben Graubünden hatten nur Thurgau, Bern und Solothurn bereits Beobachtungsnetze errichtet.40 Brügger schrieb 1862 an seine Beobachter, die Veröffentlichung aller Tabellen aus dem Bündner Netz stehe «im Interesse unseres Heimat-Kantons», der «seinen Mitständen und dem Bund in nachahmungswürdiger Weise vorangegangen» sei.41 Die Organisatoren des nationalen Netzes warfen Brügger allerdings zahlreiche Mängel vor. Seine Beobachtungsdaten könnten «nur Resultate von sehr beschränkter und bedingter Wichtigkeit zu Tage fördern», weil sie keine Luftdruck- und Luftfeuchtigkeitsmessungen enthielten und nicht alle zu denselben Tageszeiten erhoben worden waren.42 Zudem seien Brüggers Thermometer qualitativ ungenügend. Diejenigen Beobachter, die aus dem bündnerischen in das nationale Beobachtungsnetz übergingen, rüstete die Schweizerische Naturforschende Gesellschaft deshalb komplett neu aus.43 Brügger erfüllte also die neuen Standards des nationalen Netzes nicht, die von einer Kommission aus Professoren definiert worden waren. Auch die Meteorologische Zentralanstalt hielt Brüggers Arbeit für wissenschaftlich unbrauchbar und gestand ihm lediglich zu, «den Sinn für meteorologische Beobachtungen und klimatologische Erfahrungen» geweckt zu haben.44 Obwohl die Organisatoren des nationalen Netzes Brüggers Arbeit als unwissenschaftlich klassifizierten, profitierten sie dennoch davon. Die 19 Bündner Beobachter, die als Mitarbeiter des nationalen Beobachtungsnetzes ausgewählt wurden, verfügten anders als die meisten Inhaber der insgesamt 88 nationalen Stationen bereits über Erfahrung. Der Leiter der Zentralanstalt schrieb denn auch an Brügger, man merke, dass er im Kanton Graubünden «bereits Jahre lang Beobachter erzogen» habe.45 Vergleiche man die monatlich eingereichten Tabellen der Beobachtungsstation auf dem Julier mit denjenigen von Marchairuz, so seien die bündnerischen Beobachtungen wie «Rosoli» (Likör), die Waadtländischen hingegen wie «Charesalb» (Wagenschmiere).
Die Mehrheit der Beobachter im nationalen Netz hatte nach wie vor keine naturwissenschaftliche Ausbildung. Von den total 88 waren über die Hälfte Lehrer oder Pfarrer.46 Für die 19 Bündner Beobachter, die nun für das nationale Netz ihre Messungen machten, wurde die Tätigkeit bedeutsamer und prestigeträchtiger, obwohl sie nach wie vor unbezahlt war. Für die restlichen Stationen, die Brügger initiiert hatte, wurde eine Fortführung der Messungen sinnlos, da sie den neuen Standards nicht entsprachen und somit nicht mehr gefragt waren. Im Auftrag der Zentralanstalt in Zürich das Wetter aufzuzeichnen, veränderte die tägliche Arbeit der Bündner Beobachter kaum, ausser dass sie neue Instrumente erhielten und die Beobachtungszeiten leicht verschoben wurden. Die Vorschriften waren nun allerdings akribischer und die Kontrollen strenger. Die eingesandten Resultate verglich die Zentralanstalt mit solchen aus nah oder gleich hoch gelegenen Orten und ermahnte die Beobachter bei auffälligen Abweichungen. Während sich Brügger als Leiter des Bündner Netzes stets als «Mitbeobachter» verstanden hatte, war im nationalen Netz das Machtverhältnis zwischen den Berufswissenschaftlern in Zürich und den Beobachtern als ihren Gehilfen eindeutig festgelegt. Für Brügger, der weder Laie noch Fachmann war, gab es in der neu geschaffenen Hierarchie zwischen der nationalen Institution und den Laienbeobachtern keine Rolle mehr, die seiner früheren Tätigkeit als Koordinator entsprochen hätte.
Abb. 5: Im Werbeprospekt «Alpen-Kurort Churwalden» präsentierte Brügger die idealen Verhältnisse für den Gesundheitstourismus: milde Sommertemperaturen, wenig Regen und nur selten Gewitter.