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MÄNNCHEN UND WEIBCHEN, FRAUEN UND MÄNNER IN DER EVOLUTIONSTHEORIE
ОглавлениеEin zentrales Problem, das Royer nicht nur mit Darwin, sondern in Frankreich auch mit Broca und allen übrigen Theoretikern in Konflikt brachte, betraf die Frage, welche Rolle im Prozess der Evolution die Weibchen im Tierreich respektive die Frauen bei den Menschen spielen. Diese Frage durchdrang Royers gesamtes philosophisches Werk. Es ist auch diese Frage, die Royer zugleich hoch aktuell und auch problematisch erscheinen lässt.
Um Royers Position zu verstehen, ist es wichtig, sich in Erinnerung zu rufen, dass die Naturwissenschaftler des 19. Jahrhunderts massgeblich zur Legitimation der gesellschaftlichen und politischen Diskriminierung von Frauen beitrugen. «Der Charakter wissenschaftlicher Männer ist in vieler Hinsicht antifeminin», hielt etwa Darwins Vetter Francis Galton, einer der bedeutendsten Vererbungsforscher seiner Zeit, 1874 fest.32 Im selben Sinn äusserte sich sein Genfer Zeitgenosse Alphonse de Candolle, ein eminenter Botaniker: «Die [geistige] Entwicklung der Frau hört früher auf als jene des Mannes […]. Ausserdem ist der weibliche Geist oberflächlich.»33 Diese weit ins 18. Jahrhundert zurückreichenden Ansichten erhielten mit Darwins Konzept der «sexuellen Selektion» eine neue wissenschaftliche Grundlage. Mit der sexuellen Selektion erklärte Darwin das Paarungsverhalten tierischer und pflanzlicher Arten. Seine Grundannahme war, dass die Männchen eine aktive Rolle bei der Eroberung der Weibchen sowie im Konkurrenzkampf mit anderen Männchen einnahmen, während die Weibchen eine passive Rolle bei der Begattung sowie eine pflegende Rolle bei der Aufzucht spielten. Dieser Mechanismus habe bewirkt, so Darwin in seinem Werk über die «Abstammung des Menschen», dass sich die Geschlechter körperlich und geistig immer weiter voneinander entfernten: «So wurde der Mann der Frau schliesslich überlegen.»34
Abb. 7: Royers Zeitgenossen: Charles Darwin (links), Paul Broca (rechts) und Carl Vogt (unten).
Dagegen schrieb Royer in origineller Weise an. Sie teilte zwar mit ihren männlichen Zeitgenossen die Ansicht einer «erworbene[n] Unterlegenheit»35 von Frauen gegenüber Männern. In wichtigen Punkten wich Royer jedoch von ihren männlichen Kontrahenten ab. Während diese die biologische Ungleichheit für unveränderlich und kategorial hielten, hatten sie für Royer «nichts Schicksalhaftes, nichts Absolutes».36 Dies hatte mit ihrer lamarckistischen Lektüre Darwins zu tun. Royer glaubte, dass Menschen und Tiere auch solche körperlichen oder mentalen Eigenschaften an ihre Nachkommen weitervererben konnten, die sie erst nach ihrer Geburt erworben hatten. Daraus leitete sie eine Evolutions- und Geschlechtertheorie ab, die aus drei Phasen bestand. Bei den frühesten Vorfahren des Menschen hätten sich Männchen und Weibchen körperlich und geistig kaum voneinander unterschieden. Zu einer geschlechtlichen Differenzierung sei es erst durch die Verknappung der natürlichen Lebensressourcen gekommen, was den Konkurrenzdruck zwischen den frühsten Urmenschen erhöht habe. In dieser zweiten Phase des Evolutionsprozesses habe sich eine geschlechtliche Arbeitsteilung zum Schutz des eigenen Nachwuchses und damit zur Erhaltung der eigenen Art als Selektionsvorteil herausgebildet. In körperlicher Hinsicht sei es zu einer Rückbildung der männlichen Brustdrüsen gekommen respektive zu einer Spezialisierung der Frauen auf das Stillen ihres Nachwuchses.37 Männer hätten ihren Bewegungsradius bei der Nahrungssuche und im Kampf gegen Konkurrenten ausgeweitet, was eine Zunahme ihrer Körperkraft und ihrer Intelligenz zur Folge gehabt habe. Frauen hätten demgegenüber ihre mütterlichen und häuslichen Instinkte ausgeprägt. Die feministische Pointe dieses Arguments ist, dass die natürliche Asymmetrie zwischen den Geschlechtern kein primäres Merkmal der menschlichen Art ist, sondern ein gesellschaftlich erworbenes, sekundäres Merkmal. Die biologischen Geschlechterunterschiede sind so gesehen nicht statisch. Sie sind vielmehr dem naturhistorischen Wandel unterworfen und können sich in Zukunft wieder ändern, sprich: zurückbilden. Genau darauf lief Royers Argumentation hinaus. Die «zivilisierten Rassen» befänden sich nämlich, so Royer, an der Schwelle zu einer dritten Phase des Evolutionsprozesses, in welcher die Geschlechterasymmetrien nicht mehr notwendig und sogar kontraproduktiv seien. Anstelle von Körperkraft und Härte bei Männern sowie Häuslichkeit und Vorsicht bei Frauen verlange das Leben in modernen Industriegesellschaften zunehmend die Entwicklung von geistigen und sozialen Fähigkeiten beiderlei Geschlechter. Um das Leben in Städten harmonisch zu gestalten, müssten Männer Körperkraft und Intelligenz mit Emotionalität verbinden, Frauen Schönheit mit Stärke, Zärtlichkeit mit Intelligenz.38 Biologisch war dies in Royers Konzeption denkbar, weil Mädchen und Knaben sowohl die Merkmale ihrer Mütter als auch jene ihrer Väter erbten. Männer hatten, so gesehen, auch weibliche Dispositionen (daher beispielsweise die Brustwarzen) und umgekehrt. Damit beide Geschlechter ihre jeweils männlichen und weiblichen Dispositionen entfalten können, müssten jedoch die rechtlichen und sozialen Benachteiligungen der Frauen aufgehoben werden. Nur so könnten sie im Wettbewerb mit den Männern ihre schlummernden männlichen Dispositionen zu Intelligenz, Mut und Aktivität entwickeln und an ihre Töchter weitervererben. Die biologischen Geschlechterasymmetrien waren für Royer also durchaus in der Natur verwurzelt. Sie waren jedoch nichts Urtümliches, sondern eine sekundäre naturgeschichtliche Erscheinung, die notwendig war, um den Zustand der Zivilisation zu erreichen, in welchem sie nun zum Verschwinden gebracht werden sollten.