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DIE WEISSE FRAU ALS HÜTERIN IHRER «RASSE»

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Dass Royer den menschlichen Geschlechtskörper als etwas Androgynes und Wandelbares verstand, ist ein Gedanke, der auch in aktuellen Geschlechtertheorien Resonanz findet.39 Royers Geschlechtertheorie hatte jedoch eine problematische Kehrseite. Die tiefste Wahrheit über die Natur des Menschen war für Royer nämlich die Hierarchie zwischen menschlichen «Rassen». «Der erste Blick, den wir auf die Gesamtheit der lebenden Menschheit werfen», schrieb Royer in ihrem evolutionstheoretischen Hauptwerk von 1869, «zeigt uns diese in grosse Rassen unterteilt, sehr ungleich in ihren Fähigkeiten, in ihren gesellschaftlichen Organisationsweisen, in ihren körperlichen Eigenschaften, in ihrer Vorherrschaft und geografischen Ausbreitung auf dem Planeten […]. An der Spitze der Reihe hebt sich die weisse – auch arische oder indoeuropäische – Rasse ab […].»40

Mit ihren rassentheoretischen Ansichten stand Royer nicht alleine da. In einem schweizerischen Zusammenhang lässt sie sich als Vertreterin eines radikalen, säkularisierten Rassismus einordnen, den sie mit ihrem Genfer Kollegen Carl Vogt teilte. Auch er war ein atheistischer Verfechter des Evolutionsgedankens. Im Unterschied zu Royer glaubte er nicht, dass alle «Rassen» aus demselben «Stamm» hervorgegangen seien, sondern unterschied mehrere Wurzeln (Polygenismus). Ähnlich wie Royer sah er die Rassen in einem zutiefst hierarchischen Verhältnis. Afrikaner «erinnerten» ihn etwa «unwiderstehlich an den Affen».41 Andere Naturforscher teilten zwar Darwins These von der Wandelbarkeit der Arten, hielten jedoch aus religiösen Überzeugungen am Gedanken der göttlichen Schöpfung fest. Auch sie teilten die Menschheit in verschiedene «Rassen» ein, sahen diese jedoch als Variationen innerhalb derselben Art. Sprachlich äusserten sie sich zurückhaltender und setzten sich vor allem für den «Schutz» der vom Untergang bedrohten «Naturvölker» ein.42 Einen Spezialfall bildete der Neuenburger Naturforscher Louis Agassiz, der Lehrer Carl Vogts. Er lehnte den Darwinismus aus religiösen Gründen ab, vertrat jedoch ähnlich wie Vogt einen polygenetischen Rassismus, den er im Unterschied zu Royer und Vogt jedoch nicht so sehr in seinen Publikationen, sondern in privaten Äusserungen ausbreitete.43

In Royers Konzeption war die Hierarchie zwischen den «Rassen», im Unterschied zu jener zwischen den Geschlechtern, nicht nur fundamental und unüberwindbar, sondern auch weit grösser als in den Augen ihrer Zeitgenossen. Strichen diese vor allem die Nähe «primitiver Rassen» zu Primaten hervor, betonte Royer:

«Es lässt sich sogar ohne Furcht behaupten, dass ein Mincopie [Bewohner der Andamanen], ein Buschmann, ein Papua oder sogar ein Lappländer [geistig] nicht nur näher mit einem Affen, sondern auch näher mit einem Känguru verwandt ist als mit einem Descartes, einem Newton, einem Goethe oder einem Lavoisier.»44

Wenn wir Royers Geschlechtertheorie mit ihrer Rassentheorie kombinieren, lässt sich ihre Position als eine Art feministischen Rassismus oder rassistischen Feminismus charakterisieren. Der Fluchtpunkt von Royers Denken bildete stets der «Fortschritt» der weissen «Rasse». Anders als bei ihren männlichen Kollegen spielten Frauen in diesem Prozess jedoch nicht nur eine passive und nebensächliche, sondern eine aktive, ja die zentrale Rolle, wie sie in einer Passage über sexuelle Verbindungen («Blutsmischung») zwischen unterschiedlichen «Rassen» erläuterte:

«Der Widerwille gegen die Blutsmischung zeigte sich zuerst bei den überlegenen Rassen und zwar stärker bei den Weibchen als bei den Männchen. Bis zum heutigen Tag ist es eine universelle Tatsache, dass Kreuzungen zwischen der weissen Rasse und minderwertigen Rassen aus Verbindungen zwischen dem Weissen und der Negerin, der Inderin oder der Australierin hervorgehen; nur in Ausnahmefällen – etwa in Fällen von Gewalt – findet man Beispiele von Mischungen zwischen der weissen Frau und Männern anderer Rassen.»45

Die Gründe, weshalb sexuelle Verbindungen zwischen europäischen Männern und farbigen Frauen häufiger waren als umgekehrt, waren politischer und kultureller Art: Gerade zum Schutz des weissen Überlegenheitsanspruchs wurde der Kontakt zwischen europäischen Frauen und farbigen Männern auf den Plantagen und in Handelsstädten in Übersee durch die Kolonialmächte eingeschränkt.46 Royer erklärte sich diese Tatsache jedoch biologisch, mit einem angeblich angeborenen «Widerwillen» weisser Frauen gegenüber farbigen Männern. Die weisse Frau sorgte in ihrer Konzeption also für die «Reinheit» und angebliche Überlegenheit ihrer «Rasse».


Abb. 8: Im hohen Alter wurde Clémence Royer in Frankreich mehrfach geehrt. Dieses Porträt entstand 1902 kurz vor ihrem Ableben. Es zeigt sie mit dem roten Band der französischen Ehrenlegion.

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