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BERNHARD C. SCHÄR EVOLUTION, GESCHLECHT UND RASSE Darwins Origin of Species in Clémence Royers Übersetzung

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Der Ausgangspunkt jeglicher Politik muss lauten: «Die Menschen sind von Natur aus ungleich.»1 So formulierte es Clémence Royer 1862 im Vorwort ihrer Übersetzung von Charles Darwins Werk «On the Origin of Species» (Deutsch: Über die Entstehung der Arten). In diesem epochenmachenden Buch präsentierte der Engländer 1859 erstmals seine Theorie über die Geschichte der Natur. Nicht Gott würde Tiere und Pflanzen erschaffen, sondern die «natürliche Selektion». Im Wettbewerb um beschränkte natürliche Ressourcen überlebten jene Arten, die am besten an die Umwelt angepasst seien. Dadurch würden sich die Arten beständig weiterentwickeln und verändern.2

Die französische Philosophin Clémence Royer (1830-1902) übersetzte Darwins Werk in der Stadtbibliothek Lausanne ins Französische. Sie fügte dem Buch nicht nur zahlreiche Kommentare in Fussnoten, sondern auch ein 60-seitiges Vorwort bei. Dieses sorgte in der französischsprachigen Welt für ähnlich viel Wirbel wie Darwins Theorie selbst. Der Grund hierfür war, dass Royer «mehr noch als Herr Darwin», wie sie in ihrem Vorwort erklärte, «viele Hypothesen»3 wagte:

«[D]as Gesetz der natürlichen Selektion zeigt, auf den Menschen angewendet, in überraschender und zugleich schmerzhafter Weise, wie falsch unsere bisherigen politischen und gesellschaftlichen Gesetze wie auch unsere religiöse Moral gewesen sind.»4

Die Moral «unserer christlichen Ära» zeichne sich durch eine «Übertreibung dieses Mitleids, dieser Wohltätigkeit, dieser Brüderlichkeit» gegenüber Schwachen, Kranken und Armen aus. Diese würden «schwer auf den Schultern der Gesunden lasten» und «drei Mal mehr Platz an der Sonne beanspruchen als gesunde Individuen!»5

«Was folgt aus diesem exklusiven und unklugen Schutz für die Schwachen, die Kranken, die Unheilbaren, selbst für die Bösartigen, für alle, die gegenüber der Natur in Ungnade gefallen sind? Nichts anderes, als dass das Übel, unter dem sie leiden, dazu tendiert, bis in alle Ewigkeit fortzubestehen und sich zu vervielfältigen; dass dieses Übel sich vergrössert anstatt sich verkleinert; und dass es sich auf Kosten des Guten vermehrt.»6

Jahre bevor der Begriff Eugenik erfunden wurde, 7 war Royer 1862 eine der ersten Intellektuellen, die solche Schlussfolgerungen aus Darwins Theorie ausformulierte. Obschon sie dies nicht explizit schrieb, legten ihre Äusserungen nahe, dass es im «Kampf ums Dasein» besser sein könnte, Schwache, Kranke und Pflegebedürftige sterben zu lassen oder ihre Fortpflanzung zu verhindern.

Mit dieser Haltung verkörperte Royer einerseits wesentliche Merkmale des zeitgenössischen naturwissenschaftlichen Denkens. In einer Zeit, als Frauen in Europa nicht nur von politischen Ämtern, sondern auch von Universitäten ausgeschlossen waren, war Royer aber andererseits eine Ausnahmeerscheinung. Sie war eine der wenigen Frauen in der französischsprachigen Welt, die sich auf Augenhöhe mit den grössten Theoretikern ihrer Zeit intellektuell duellierten. Sie vertrat in diesen Debatten einen pointiert feministischen Standpunkt.8 Dieser unterschied sich nicht nur von den vielfältigen Theorien ihrer Zeitgenossinnen (und erst recht von den Theorien all ihrer männlichen Zeitgenossen), sondern auch von den feministischen Theorien ihrer Nachfolgerinnen. Während etwa Royers Landsfrau Simone de Beauvoir fast ein Jahrhundert später proklamierte, dass man nicht als Frau geboren, sondern durch die Gesellschaft zu einer solchen gemacht werde, 9 hielt Royer an der Auffassung fest, dass Menschen entweder als Männer oder als Frauen geboren würden und von Natur aus ungleich seien. Das Originelle an Royers Argument war jedoch, dass gerade diese natürliche Ungleichheit der Grund sei, weshalb Frauen (zumindest solche der «weissen Rasse», wie wir sehen werden) dieselben Rechte und Chancen wie Männer erhalten sollten. Royer entwickelte diese Sichtweise in einer feministischen Evolutionstheorie. Von ihren männlichen Zeitgenossen wurde diese allerdings weitgehend ignoriert, weshalb Royer nach ihrem Tod schnell in Vergessenheit geriet.10 Im 20. Jahrhundert flackerte die Erinnerung an sie zunächst periodisch in feministischen Zeitschriften wieder auf.11 Als sich ab den 1980er-Jahren die Frauen- und Geschlechtergeschichte etablierte, erschienen zwei wissenschaftliche Biografien – eine von der französischen Philosophin Geneviève Fraisse und eine von der amerikanischen Wissenschaftshistorikerin Joy Harvey.12


Abb. 1: Die Bibliothek in Lausanne um 1900.


Abb. 2: Das Titelblatt von Clémence Royers erster Darwin-Übersetzung. Für die zweite französische Auflage von 1866 entfernte Royer auf Geheiss Darwins den Begriff «Fortschritt» im Untertitel. Für die dritte Auflage von 1869 entzog ihr Darwin seine Autorisation.

Das Hauptanliegen dieser Biografinnen war es, Royers Beiträge zur feministischen Theoriebildung und zur Biologie zu rekonstruieren und zu würdigen. Hier soll ein anderer Aspekt von Royers Denken ins Zentrum gerückt werden, der in der bisherigen Literatur zwar nicht ignoriert, jedoch nur am Rand behandelt wurde: der Rassismus. Dieser war sowohl für ihren Feminismus als auch für die von ihr mitgeprägte Darwin-Rezeption elementar.13 Zugleich lassen sich Einblicke in die Rolle der Schweiz als Drehscheibe zwischen den französischen, deutschen und englischen Wissenschaftsgemeinschaften gewinnen. Zentrale und bis heute einflussreiche Theorien des 19. Jahrhunderts wurden über die Schweiz ausgetauscht. Es handelt sich um Theorien der Evolution, der Rassen und der Geschlechter.

Die Naturforschenden

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