Читать книгу Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I - Группа авторов - Страница 10
1 Einleitung
ОглавлениеEs ist eine bemerkenswerte Eigenheit pädagogischer Diskussionen, dass darin immer wieder neue Begriffe auftauchen, die breite Aufmerksamkeit auf sich ziehen und zu eigentlichen Modebegriffen werden. Diese Begriffe versprechen in der Regel, etwas Neues und noch nie Dagewesenes, aber dennoch Wichtiges und Essenzielles zu bezeichnen und die pädagogische Theorie oder Praxis (besser noch beide) entweder zu revolutionieren oder doch zumindest entscheidend neu zu gestalten und zu verbessern.
Die hier beschriebene Funktion eines Modebegriffs hat seit einiger Zeit der Begriff der «Kompetenz» übernommen, der nicht nur in der Bildungspolitik und in der Lehrerbildung in aller Munde ist, sondern auch in allen möglichen Verbindungen gebraucht wird, von der Sozialkompetenz in Stellenausschreibungen über das Schweizer Kompetenz Centrum für Gesundheit und Prävention (SKC) mit dem Ex-Fussballer Alain Sutter als «stolzem Mitglied des SKC Netzwerks»[3] bis hin zur transkulturellen Kompetenz als Weiterbildungsangebot des Roten Kreuzes. Damit hat sich «Kompetenz» zu einem eigentlichen Zauberwort des Unterrichts, der Schule, der Berufsbildung und der bildungspolitischen Debatte entwickelt. Der Begriff hat aber auch eine vielstimmige Opposition hervorgerufen, die ihm auf unterschiedlichen Ebenen skeptisch bis ablehnend gegenübersteht. «Kompetenz» wird dabei als Verkörperung eines eher sinnlosen Reformeifers verstanden, als Anfang vom Untergang der abendländischen (Bildungs-)Tradition, als Kniefall vor der Dominanz der Leistungsmessung und der Output-Steuerung im Bildungswesen, ja sogar als Trojanisches Pferd im Kampf um die Vereinheitlichung des Schweizerischen Bildungswesens, was den Verlust der kantonalen Souveränität in Bildungsfragen zur Folge hätte.
Die Verfechter des Kompetenzbegriffs setzen in ihrer Anwaltschaft der Kompetenz oft den Begriff des «toten Wissens» entgegen, wobei dieser eine Art von Wissen bezeichnet, das keine praktischen Konsequenzen habe bzw. in praktischen Situationen nicht angewendet werden könne. Es werde also nur für Prüfungen oder für die Schule gelernt, so der oft formulierte Vorwurf, weshalb Gelerntes, sobald die Prüfungs- oder Schulsituation vorüber sei, sofort wieder vergessen werde. Kompetenz dagegen verweise auf ein tätiges oder aktives Wissen, mit dem in konkreten Situationen aktiv gehandelt werden könne und das deshalb praxisrelevant und bedeutungsvoll sei und für diejenigen, die darüber verfügten, einen tatsächlichen Mehrwert biete.[4]
Gemäss der aktuellen Ausgabe des Dudens hat der Begriff «Kompetenz» zwei Hauptbedeutungen. Er bezeichnet einen bestimmten Sachverstand oder eine Fähigkeit und knüpft damit an die Verwendung innerhalb der römischen Rechtslehre im Sinne von kompetent als «zuständig», «befugt», «rechtmässig» oder «ordentlich» an (Grunert 2012, 39). Zudem beschreibt Kompetenz in den Sprachwissenschaften die Summe aller sprachlichen Fähigkeiten, die eine muttersprachliche Person besitzt. Von einer explizit pädagogischen oder psychologischen Verwendung ist im Duden nicht die Rede.
Ein – gemäss Eigenwerbung – «Standardwerk» der Psychologie, das «seit vielen Studentengenerationen […] eine umfassende Orientierung über Grundlagen, Konzepte und Begriffe der Psychologie ermöglicht»,[5] der «Dorsch», definiert «Kompetenz» als kontextspezifische «Leistungsdisposition» bzw. als «Leistungspotenzial», das stärker als das Konzept der Intelligenz den Handlungsaspekt betone und damit den Kontext berücksichtige (Wirtz 2015). Während der Kompetenzbegriff in der psychologischen Forschung noch als einigermassen klar definiert gelten könne, so ist weiter zu lesen, treffe das für eine pädagogische Verwendung nicht mehr unbedingt zu. Kompetenz werde im pädagogischen Feld zum Teil auch als «Persönlichkeitsdimension verstanden, die sich umfassend auf die ‹fühlenden, denkenden, wollenden und handelnden Individuen› während ihrer lebensbegleitenden Lern- und Entwicklungsprozesse bezieht», was «ein lebenslanges und zunehmend selbstgesteuertes» Lernen ermögliche, wobei der Lernende selbstverantwortlich in pädagogisch gestalteten Lernumgebungen agieren soll. Ein «solch umfassender Definitionsansatz» könne nur dann empirisch nutzbar gemacht werden, wenn er in analytisch zugängliche Konstrukte aufgeteilt werde (ebd.). Der Begriff der Kompetenz ist – das muss aus diesem Lexikoneintrag geschlossen werden – im pädagogischen Kontext ein Konglomerat unterschiedlicher Versatzstücke mit höchst bedingter empirischer Nutzbarkeit bzw. Funktionsfähigkeit, dafür aber mit hohen Erwartungen verbunden.
Den emanzipatorischen Aspekt betont eine Studie zu Kompetenz als neuem Paradigma des Lernens in Schule und Arbeitswelt, die hauptsächlich auf die französischsprachigen Debatten rekurriert. Der Begriff wird hier als «mehr» als nur ein Modewort beschrieben, da er Ausdruck einer gesellschaftlichen Veränderung mit dem Ziel einer kritischen und selbstreflexiven Autonomie sei, was nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur und das Verständnis von Unterricht bleibe, aber auch das Selbstverständnis der Lehrenden nicht unberührt lasse (Max 1999, 469–471). Der «Kompetenzdiskurs» scheint ein sprachgrenzenübergreifendes Phänomen zu sein, das hier wie dort ähnlich diskutiert wird.
Ein Blick in die weitere Forschungsliteratur zeigt, dass der Kompetenzbegriff sich aus mehreren und vor allem auch theoretisch, historisch und konzeptionell ganz unterschiedlichen Wurzeln nährt. Darauf haben nicht nur schon die beiden im Duden angegebenen Begriffsverwendungen hingewiesen, sondern auch begriffsgeschichtlich orientierte Studien. Das historische Wörterbuch der Philosophie beispielsweise listet unter dem Stichwort «Kompetenz» sechs Einträge auf, die sich aus römisch-rechtlicher, militärischer, öffentlich-rechtlicher, biologischer, motivationspsychologischer und sprachtheoretisch-kommunikationswissenschaftlicher Perspektive mit dem Begriff beschäftigen (Ritter u. Gründer 1976, 918–920). Vor diesem Hintergrund erstaunt nicht, dass der Eintrag «Kompetenz» aus sechs Einzelbeiträgen besteht, die jeweils zu ganz unterschiedlichen Begriffsbestimmungen gelangen.
In einem Artikel zu «Kompetenzkonzepten» werden die «Wurzeln des Kompetenzbegriffs und der darauf aufbauende Diskurs in der Erziehungswissenschaft» rekonstruiert (Klieme u. Hartig 2007, 11) und die Ursprünge in der Soziologie Max Webers, der Linguistik Noam Chomskys und in einer «pragmatisch-funktionalen» Tradition der amerikanischen Psychologie gefunden. Damit ziehen die beiden Autoren eine Traditionslinie, der in der neueren Literatur oft gefolgt wird und auf die sich die erziehungswissenschaftlich-psychologische Literatur bezieht, die sich ihrer begrifflichen Herkunft versichern möchte.
Die verschiedenen Ansätze machen deutlich, dass die Bedeutungen, die dem Kompetenzbegriff in der Forschungsliteratur und in der zeitgenössischen Schul- und Unterrichtsdiskussion zugeschrieben werden, nicht neu sind und von einem gesellschaftskritischen und die Selbstreflexion und Selbstbestimmung fördernden Potenzial bis hin zu einem empirisch messbaren Konstrukt reichen. Die Analyse der verschiedenen und eher disparaten Diskussionsbeiträge verweist indes auf einen in den pädagogischen Debatten durchaus weitverbreiteten Umgang mit Begriffen. Diese Begriffe werden relativ unabhängig von ihrer inhaltlichen Bestimmung zu einer Chiffre für ein Phänomen, das nicht klar zu definieren und zu bestimmen ist und das aus durchaus unterschiedlichen Gründen Attraktivität besitzt. In dieser begrifflichen Unschärfe können jeweils mehr oder weniger diffuse Erwartungen und Anforderungen zusammengefasst werden, die Bedeutung versprechen, auch wenn oder vielleicht gerade weil nicht präzis formuliert werden kann, was genau damit gemeint ist.[6] Allerdings können solch unscharf konzeptualisierte Begriffe durchaus definiert und die daraus entstandenen Definitionen als «wahr» oder «real» angesehen werden, ohne dass der Begriff als historisches Konglomerat von vielen verschiedenen Anforderungen, Ansprüchen und Wünschen verstanden wird, das – vielleicht nur zufällig – Diskursdominanz erhalten und in dieser Dominanz ein Eigenleben entwickelt hat, das nur noch eine sehr bedingte Verbindung zu den eigentlichen oder ursprünglichen Absichten hat.[7]
Der amerikanische Wissenschafts- und Erziehungsphilosoph Israel Scheffler (1923–2014) bezeichnete das eben beschriebene Phänomen 1960 als «pädagogischen Slogan», der im Gegensatz zu einer Definition unsystematisch sei (Scheffler 1971, 55). Ein solcher Slogan beherrsche durch seine emotionale Konnotationsfähigkeit die Diskussionen sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit und gebe vor, «‹Forschungsresultate› der Pädagogik» zu bezeichnen (Reichenbach 2007, 190): «Einigermassen naiv dürfte die Annahme sein, dass der Gebrauch und die Akzeptanz von solchen Vokabularien keinen Einfluss auf pädagogisches Handeln und Denken hätte», wobei sie «auch entlastende Funktion» haben. Begriffe sind damit nicht nur Bezeichnungen für empirische Phänomene, sondern bestimmen durch ihre Begrifflichkeit auch empirische Phänomene. Oder noch pointierter formuliert: «Hinter verfänglichen Proklamationen und pathetischen Phrasen offenbaren sich immer wieder bloss die uniformierten Meinungen der tatsächlichen oder vermeintlichen Vertreter der Disziplin, die sich von den eigenen Selbstwirksamkeitsgefühlen und -wünschen haben verführen lassen» (ebd., 191).
Kompetenz wird in diesem Beitrag als ein ebensolcher «pädagogischer Slogan» verstanden, was anhand einiger Wegmarken der pädagogischen und psychologischen Verwendung dargestellt wird. Dabei geht es nicht darum, umfängliche Entwicklungslinien des Begriffs zu rekonstruieren, sondern an bestimmten Punkten der Geschichte schlaglichtartig ausgewählte Debatten in ihrem Kontext zu beleuchten, um die Vielschichtigkeit des Kompetenzbegriffs beispielhaft aufzuzeigen. Durch diese historische Kontextualisierung kann der Begriff der Kompetenz entmythologisiert und können dessen Grenzen und theoretische Verstrickungen aufgezeigt werden. Ziel ist kein wie auch immer ausformulierter «richtiger» Begriff von Kompetenz im Gegensatz zu einem «falschen» Begriff, um damit eine gültige Lesart zu bestimmen. Vielmehr geht es darum, die verschiedenen historischen Herkünfte und Wurzeln so herauszuarbeiten, dass die damit verbundenen Erwartungen oder gar «Erlösungshoffnungen» (Geissler u. Orthey 2002, 73) sichtbar werden. Die gängige Unterscheidung von Kompetenz und «totem Wissen» wird dabei als heuristisches Mittel verstanden, das heisst als eine intellektuell konstruierte Hilfe, um einen Sachverhalt deutlicher zu erfassen. Diese Unterscheidung hat sich allerdings längst zu einer empirischen Realität entwickelt, die sowohl die öffentliche als auch die wissenschaftliche Diskussion bestimmt und dazu führt, dass einigermassen «geschichtsvergessen» immer wieder neue Konzepte und Begriffe als «pädagogische Erlösung» zuerst erfreut rezipiert werden, bevor sie später enttäuscht durch neue ersetzt werden.