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5 Kompetenz oder Wissen

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Die Frage nach der Rolle des Wissens verweist auf die in der zeitgenössischen Diskussion beliebte Unterscheidung von «totem Wissen» und Kompetenz. Diese Gegenüberstellung von verschiedenen Arten von Wissen ist auf den ersten Blick durchaus nachvollziehbar und knüpft an pädagogisches Alltagswissen und pädagogische Alltagserfahrung an. Sie verweist darüber hinaus aber auch auf ein «traditionelles» Problem der Pädagogik, das Problem nämlich, wie Pädagogik als eine auf Praxis zielende Wissenschaft die Lücke zwischen Theorie und Praxis schliessen kann.[17] Konkret geht es um die Frage, wie man einen anderen Menschen (oder auch sich selber) dazu bringen kann, Vorstellungen, Ideen oder eben Wissen effektiv anzuwenden bzw. in konkrete Taten umzusetzen und damit tatsächlich gemäss den eigenen Überzeugungen und Vorstellungen zu handeln.[18]

Die Unterscheidung zwischen Kompetenz und «totem Wissen» könnte so als heuristisches Mittel verstanden werden, das heisst als intellektuell konstruierte Hilfe, deren Funktion lediglich darin besteht, einen Sachverhalt deutlicher zu erfassen, hier also zwei Formen von Wissen voneinander zu unterscheiden. Das Problem ist allerdings, dass die in der zeitgenössischen Literatur so oft betonte Gegenüberstellung von Kompetenz und «totem Wissen» in der Regel gerade nicht heuristisch, sondern als real verstanden wird und damit als empirisch überprüfbarer Tatbestand, der mit entsprechenden Methoden gemessen werden kann. Unter dieser Voraussetzung ist diese Unterscheidung auch für die wissenschaftliche oder fachliche Beschäftigung mit – hier konkret – Schule und Unterricht leitend und bestimmt (auch) die Vorstellung davon, was Schule und Unterricht ist und zu sein hat.

Diese Unterscheidung schliesst auch an die Frage an, wie der Mensch damit umgeht, dass er nie alles wissen kann und wie mit dieser ständigen Defiziterfahrung in Bezug auf die Qualität und Quantität des je verfügbaren Wissens umgegangen wird. Auch wenn der Anspruch der Allwissenheit schon immer illusorisch war, hat er sich als ein sehr beliebter pädagogischer Anspruch erwiesen, der vermeintlich durch das Konzept der Kompetenz eingelöst werden kann, da Kompetenz nicht mehr vorgibt, alles (oder möglichst vieles) «wissbar» zu machen, sondern Methoden oder eben die «Kompetenz» zu vermitteln, situativ und je nach Bedarf jenes Wissen verfügbar machen zu können, das zur Lösung einer bestimmten Aufgabe notwendig ist. Somit ist Wissen umfassend verfügbar, wenn nicht de facto, so zumindest potenziell. Die Frage nach dem Verhältnis von Kompetenz und Wissen ist demnach auch aus dieser Perspektive nicht neu, sondern Bestandteil einer wie auch immer verstandenen «Wissensgesellschaft», ein weiteres beliebtes Schlagwort der pädagogischen Diskussion.

Unabhängig von der grundsätzlichen und wohl eher philosophischen Frage, weshalb der Anspruch besteht, «alle alles zu lehren» bzw. «alles zu wissen», ist das angeblich Neue, das mit dem Kompetenzbegriff Einzug in Schule und Unterricht finden soll, nicht wirklich neu. Bei diesem angeblich «Neuen» handelt es sich vielmehr um eine bekannte Frage der Pädagogik, zumindest wenn man die Geschichte der Pädagogik seit dem 18. Jahrhundert in den Blick nimmt, da seit dieser Zeit davon ausgegangen wird, dass gesellschaftliche und soziale Probleme pädagogisch gelöst werden müssen. Dieses Phänomen wird in der internationalen Diskussion auch unter dem Stichwort educationalization of social problems diskutiert (Smeyers u. Depaepe 2008).

Wenn sich Pädagogik als Wissenschaft einer Tätigkeit versteht, die nicht darauf abzielt, durch Konditionierung oder Zwang eine bestimmte Handlung oder ein bestimmtes Verhalten hervorzurufen, sondern beansprucht, die der Erziehung bedürftigen Subjekte als autonome, selbstverantwortliche und selbstbestimmte Individuen zu sehen, dann geht es immer auch darum, wie in der und durch die Erziehung erreicht werden kann, dass als gut, sinnvoll oder passend erkannte Handlungs- oder Verhaltensweisen in den entsprechenden Situationen auch tatsächlich ausgeführt werden. Diese vermittelnde Instanz oder Fähigkeit wurde in der Geschichte der Pädagogik als (pädagogischer) Takt, Tugend oder Moral bezeichnet, wobei diese normativ geprägten Begrifflichkeiten heute eher als «nichtwissenschaftlich» etikettiert werden würden. Sie stehen auch quer zur gegenwärtig dominanten Logik der quantitativen Forschung mit ihrem vom Kritischen Rationalismus geprägten Forschungsansatz, der davon ausgeht, dass auch geistes- oder sozialwissenschaftliche Forschung Resultate hervorbringe, die so lange als «wahr» zu gelten hätten, als sie nicht durch gegenteilige Befunde falsifiziert worden seien. Zu dieser Forschungslogik passt, dass es sich bei der Kompetenz um einen Begriff handelt, der verspricht, operationalisierbar und damit für die empirische Forschung brauchbar zu sein.

Auch wenn sich die empirische Bildungsforschung als die zurzeit dominante Forschungslogik der Erziehungswissenschaft und der Bildungspolitik an einer psychologischen Begriffstradition orientiert, hat sie den Kompetenzbegriff nicht in der von Noam Chomsky formulierten Trennung von Kompetenz und Performanz weiterentwickelt, sondern versteht Kompetenz als «Fähigkeit einer Person», «situativ geprägte Anforderungen zu bewältigen» (Klieme u. Hartig 2007, 16), was in der Linguistik unter den Begriff der Performanz fallen würde. Kompetenz ist demnach in der zeitgenössischen Diskussion sehr wohl als Performanz zu verstehen, da Kompetenz hier keine anthropologische Fähigkeit bezeichnet, sondern eine Handlung, die sichtbar und damit messbar ist (Grunert 2012, 16). Kompetenz mag damit als Konzept und Begrifflichkeit gelten, die als empirisch fassbar und operationalisierbar gesehen wird und nicht zuletzt aus diesem Grund die bildungspolitische Debatte bestimmt. In einer längerfristigen Perspektive ist aber zu erwarten, dass der Kompetenzbegriff ein ähnliches Schicksal erleiden wird wie der Begriff der Schlüsselqualifikation. Die Kritik an der Operationalisierbarkeit wird zunehmen und an einem bestimmten Zeitpunkt einen kritischen Punkt überschreiten, dann wird auch das Kompetenzkonzept von einem neuen Konzept abgelöst werden (Faulstich 2002, 23). «Die Qualifikation bleibt also Qualifikation – auch wenn sie jetzt Kompetenz heisst», so haben es Karlheinz A. Geissler und Frank Michael Orthey (2002, 73) schon vor über zehn Jahren auf den Punkt gebracht. Das bedeutet nicht, dass damit das zur Diskussion stehende Phänomen dann ebenfalls obsolet sein wird, im Gegenteil.

Die Frage, wie Wissen zu Handlung wird oder wie Ausbildung eine Investition in eine Zukunft sein kann, wird die pädagogische und damit auch die bildungspolitische Diskussion weiterhin begleiten. Ob mit einer neuen Begrifflichkeit jeweils auch ein Erkenntnisfortschritt verbunden ist, muss mindestens diskutierbar bleiben. Wenn die pädagogische Debatte sich nicht ganz so geschichtsvergessen gibt, wie das gelegentlich zu beobachten ist, und wenn sie nicht aufgrund von rationalen Begriffsdefinitionen glaubt, damit auch empirische Realität beschreiben zu können, sondern diese als heuristisches Modell versteht, dann hat sie zumindest die Chance, die Welt nicht alle zehn Jahre neu erfinden zu müssen und von neuen Konzepten Erlösung zu erwarten.

Weiterdenken

•In diesem Beitrag wurde das Konzept des pädagogischen Slogans eingeführt. Welche Begriffe würden Sie gemäss Scheffler als pädagogische Slogans charakterisieren und warum?

•Welche Argumente können – aus einer historischen Perspektive – für eine kritische Haltung gegenüber dem Kompetenzbegriff angeführt werden?

•Worin sehen Sie den «Mehrwert» einer historischen Perspektive – konkret auf den Kompetenzbegriff bezogen, aber auch darüber hinaus?

Kompetenzorientierter Unterricht auf der Sekundarstufe I

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