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Vorwort: Klinische Gestalttherapie und die gesundheitspolitische Situation in Deutschland

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Das nun auch in deutscher Sprache erschienene Werk über die weltweite gestalttherapeutische klinische Weiterentwicklung füllt eine gravierende Lücke. Es ist den drei Initiatoren zu verdanken – selbst engagierte und erfahrene gestalttherapeutische Psychiater –, dass das Werk das Erfahrungswissen speziell im Bereich der schwereren psychiatrisch-psychotherapeutischen Störungen erfasst. Dabei wird die vielfältige Behandlungserfahrung bei Patienten aller wesentlichen Problemfelder im Bereich der Psychotherapie, Psychiatrie, Psychosomatik einbezogen. Es beinhaltet auch Gesichtspunkte einer modernen kulturorientierten Soziotherapie mit Migrationsproblematik. Deutlich wird, wie wirksam die Beziehungsdimension gerade bei diesen schweren Krankheitsbildern ist, wenn sie im gestalttherapeutisch-humanistischen Sinn angemessen und im guten Sinne professionell eingesetzt wird. In der Beziehungsgestaltung liegt ein sehr großes Heilungspotenzial verborgen, das die konventionelle Medizin und speziell die Psychiatrie etc. verschenken. Ich kann das aus meiner Erfahrung voll bestätigen. (Ich leitete ab 1978 zehn Jahre lang in Deutschland die erste gestalttherapeutisch geführte Abteilung für Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik.)

Der Dank gebührt sowohl dem Idealismus der beteiligten Wissenschaftler und praktizierenden Fachvertreter als auch der EAGT (European Association for Gestalt Therapy), unter deren Schirm die Beiträge in englischer Sprache gesammelt worden sind – sowie schließlich der DVG (Deutsche Vereinigung Gestalttherapie), ÖVG (Österreichische Vereinigung für Gestalttherapie) und der FS IGT im ÖAGG (Fachsektion für Integrative Gestalttherapie im Österreichischen Arbeitskreis für Gruppentherapie und Gruppendynamik), die für die deutsche Übersetzung Sorge trugen.

In Verbeugung vor dem dialogischen Prinzip der Gestalttherapie und der Bedeutung seiner Kontaktgestaltung ist das Werk dialogisch konzipiert: Markante Vertreter antworten einander, teils verstärkend, teils kritisierend, teils ergänzend und potenzierend, und setzen so Impulse zur lebendigen Weiterentwicklung. So erweist sich die Gestalttherapie als geistiger Fluss mit bewährten relativierten und innovativen Strängen.

Der Untertitel »Von der Psychopathologie zur Ästhetik des Kontakts« mag manche Kollegin, manchen Kollegen verwundern. Hier taucht ein Gesichtspunkt auf, der im internationalen Mainstream der Fächer Psychiatrie/Psychotherapie/Psychosomatik nicht wahrgenommen wird: Es geht im Kontaktverhalten nach innen und außen auch um Phänomene der Stimmigkeit zwischen den verschiedenen Teil-Kompetenzen, die das Kontaktverhalten modulieren bzw. ihm Dissonanzen oder Konsonanzen verleihen.

Entgegen dem Vorurteil der eigenen ersten Generation konnte – vor allem dank der Forschergruppe um Leslie Greenberg aus Kanada – die gestalt-typische Vorgehensweise der schrittweisen Prozessorientierung schließlich doch für die Forschung zugänglich gemacht werden. Sie entspricht in der Psychotherapieforschung einem Quantensprung. Greenberg sieht durch die Prozess-Forschung für die dritte Generation das Potenzial, Theorie und Praxis der Gestalttherapie auf einem höheren Reflexionsniveau als bisher integrieren zu können.

Die Wirksamkeit von Psychotherapieverfahren wird heute in Effektstärken (ES) angegeben. Nach Cohen gilt 0.5 ES als mittlere, 0.8 ES als gute Wirksamkeit. Der Durchschnitt der amerikanischen Humanistischen Verfahrensgruppe (Gestalttherapie, Gesprächstherapie, Psychodrama, Emotion FocusedTherapy) liegt in der Metaanalyse von R. Elliott1 bei 0.93 ES, punktgleich mit der CBT/Verhaltenstherapie (cognitive behavioral therapy). Die psychodynamische Gruppe, die aus Psychoanalyse und Tiefenpsychologie besteht, liegt jetzt wie früher deutlich darunter.

Gestalttherapie ist heutzutage dasjenige Psychotherapie-Verfahren, das weltweit die höchsten Effektstärken aufweist. Phil Brownell2 berechnete für die Gestalttherapie eine ES zwischen 1.12 und 1.42 ES, je nach Diagnosegruppe.

Ausschließlich in Deutschland herrscht ein beschämender Sonderstatus: Hier wurden 1998 aufgrund einer berufspolitischen Verbandsinitiative der derzeitigen »Richtlinien-Verfahren« die humanistischen und systemischen Verfahren per Gesetz für die staatliche Patientenversorgung nicht zugelassen, obwohl (oder weil!) vor allem die humanistische Gruppe bessere Wirksamkeitsstudien vorlegen konnte als im Durchschnitt die (interessengeleitet) später gesetzlich zugelassenen. Fazit: Deutschen Patienten werden derzeit die wirksamsten Psychotherapien vorenthalten. Die Mehrkosten hat die Versichertengemeinschaft zu zahlen. Korrigierende öffentliche Aufklärungsinitiativen über diesen Missstand sind seit einiger Zeit im Gange.

Wir wünschen uns und unseren Patienten, dass in naher Zukunft auch in Deutschland Wissenschaft, Vernunft und Gerechtigkeit die Oberhand bekommen.

Lotte Hartmann-Kottek

Juli/August 2014

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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