Читать книгу Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов - Страница 22

3.7 Das Selbst als Prozess, Funktion und Kontaktereignis

Оглавление

Eine Schwäche in der psychoanalytischen Theorie des Ich brachte die Begründer der Gestalttherapie dazu, eine neue Theorie des Selbst aufzustellen:

In der psychoanalytischen Literatur ist die Theorie des Selbst oder des Ich jeweils das notorisch schwächste Kapitel. In diesem Buch wagen wir es, eine neue Theorie des Selbst oder Ich zu entwickeln, indem wir die große Wirkung der schöpferischen Anpassung nicht weiterhin auslöschen, sondern bestärken. (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Bd. I, 49 f.)

Das Selbst, der Dreh- und Angelpunkt, auf dem alle psychotherapeutischen Ansätze basieren, wird in der Gestalt-Therapie als die Fähigkeit des Organismus betrachtet, spontan, absichtlich und kreativ in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten. Das Selbst hat die Funktion, in Kontakt mit seiner Umwelt zu treten (in unserem Sprachgebrauch ist dies das »Wie« der menschlichen Natur).

Das Verständnis vom »Selbst als Funktion« ist unter den psychotherapeutischen und den Persönlichkeitstheorien nach wie vor eine einzigartige Sichtweise. Die Theorie der Gestalttherapie erforscht das Selbst als Funktion des Organismus/Umwelt-Felds im Kontakt, nicht als Struktur oder Instanz. Dieser Ansatz gründet sich nicht so sehr auf der Ablehnung von Inhalten und Strukturen. Vielmehr basiert er auf der Überzeugung, dass jeder, der sich eingehend mit der menschlichen Natur befasst, die Kriterien untersuchen muss, die Spontaneität hervorrufen, und nicht die Kriterien, die eine Schematisierung menschlichen Verhaltens begünstigen.

Was bedeutet die Aussage, dass das Selbst als Funktion eine Fähigkeit oder einen Prozess ausdrückt? Nehmen wir das Beispiel eines neugeborenes Babys, das Milch trinkt: Es weiß, wie man trinkt. Die Fähigkeit des Kindes zu trinken (und später zu beißen, zu kauen, zu sitzen, zu stehen, zu gehen usw.) bringt das Kind in Kontakt mit der Welt und fördert seine Spontaneität. Wenn man dem Kind das Trinken verbietet (das Beißen, Kauen, Stehen, Gehen usw.), muss es kompensieren, indem es den Kontakt auf andere Weise herstellt. Es sucht also nach einer kreativen Anpassung an die Situation.

Wenn ein Kind zum Beispiel schlechte Milch zu trinken bekommt oder für seine Krabbel-, Steh- oder Gehversuche bestraft wird, wird es von dieser Erfahrung nachhaltig beeinflusst. Die Gestalttherapie ist jedoch nicht daran interessiert, die Qualität der Milch oder das Verhalten der Eltern zu beurteilen: Sie richtet ihr Augenmerk vielmehr auf die Reaktion des Kindes. Dadurch können wir beobachten, wie man den Organismus unterstützen kann, damit er sein spontanes Funktionieren wiedererlangt. Nach unserer Auffassung lebt der Organismus für und durch dieses spontane Funktionieren: Kontakt, der durch mehrere Fähigkeiten zustande kommt. PatientInnen entdecken ihre Spontaneität nicht nur dadurch wieder, dass sie herausfinden, was nicht gut für sie war, sondern auch dadurch, dass sie neue Möglichkeiten erleben, in Kontakt zu treten, oder neue Fähigkeiten erschließen, spontan neue kreative Anpassungen vorzunehmen. Kurz gesagt dadurch, dass sie das Erleben des Organismus/Umwelt-Felds neu organisieren.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

Подняться наверх