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3.6.2. Kontextuelle Perspektive: Fokus auf Rollen und Interaktionen

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Im Dialog mit dem Therapeuten bemerkt Alice, dass ihre Anspannung mit der großen Verantwortung zusammenhängt, die sie für die Dinge übernimmt, die sie nicht beeinflussen kann. Sie sitzt zum Beispiel in einem Bus und verkrampft sich, wenn sie sieht, wie ein Fahrradfahrer das grüne Licht an einer Kreuzung erwischt. Sie stellt sich sofort all die Komplikationen vor, die auf der Kreuzung möglicherweise auftreten könnten. Gleichermaßen übernimmt sie auch Verantwortung für die Mitglieder ihrer Familie (ob ihr Ehemann pünktlich zur Arbeit kommt, welche Noten ihrer Tochter in der Schule bekommt…). Alice ist überzeugt, dass diese Verantwortung Teil ihrer Rolle als Mutter ist. Sie kümmert sich um ihren Ehemann und ihre Tochter und sie helfen ihr nicht im Haushalt. Wenn sie alleine zuhause ist, wird die Anspannung größer und eskaliert in einer Panik. Bei den seltenen Gelegenheiten, bei denen sie mit Freunden in eine Weinbar geht, wird die Anspannung jedoch geringer (der Alkohol hilft auch hier). Wenn sie mit ihren Freunden zusammen ist, schüttelt sie für eine Weile das Bild ab, wie eine Mutter sich benehmen sollte.

Die Diagnose wird zu einem Pfad, auf dem die TherapeutIn die PatientIn begleitet und in dessen Verlauf das Erleben des Leidens erkannt, benannt und (mit-)geteilt wird. Das Erleben wird verortet und erhält eine Bedeutung. Von einer Definition, die mehr oder weniger unpassend und von außen zugewiesen erscheinen mag, z. B. »Panikattacke«, bewegen sich TherapeutIn und PatientIn auf eine gemeinsam erzählte Geschichte zu, durch die sich die Bedeutung und Relationalität eines erlebten Leidens herausbildet. In unserem Beispiel ändert der Therapeut freiwillig und bewusst den Fokus, als er die klinische Situation beobachtet. Er hilft der Patientin herauszufinden, in welchem Kontext ihre Schwierigkeiten auftreten. Der Therapeut verlässt die symptomatische Perspektive und betrachtet die Patientin und ihre Situation aus der kontextuellen Perspektive.18 Mit dieser Perspektive übernimmt der Therapeut eine systemische Sichtweise, die sich mit zirkulärer Kausalität beschäftigt. Die Symptome treten innerhalb von Systemen der Beziehungen auf, die die PatientIn zu anderen Menschen hat, wirken aber auch auf diese Systeme zurück. Eine Diagnose aus der kontextuellen Perspektive macht deutlich, wie die PatientIn in unterschiedlichen Systemen (der Ursprungsfamilie und der aktuellen Familie, dem Beruf usw.) in der Vergangenheit funktioniert hat und immer noch funktioniert. Sie bezeichnet die Rollen, die die Phänomenologie der PatientIn in ihren Beziehungen gespielt hat.

Eine Erörterung der kontextuellen Perspektive mag GestalttherapeutInnen überflüssig vorkommen, da es doch eine Feldtheorie gibt. Es ist jedoch wichtig, die beiden voneinander zu unterscheiden, um von beiden profitieren zu können.19 Zwischen der Beschreibung einer »Interaktion zwischen einem Menschen und der Welt« und eines »interaktionellen Mensch-Welt-Ganzen« (Wollants 2008) gibt es einen Unterschied. Aus der kontextuellen Perspektive kommt PatientIn, TherapeutIn und »Symptomen« eine Rolle in einem System zu. Aus der Feld-Theorie-Perspektive sind sie jedoch Funktionen des Felds. Wenn wir sagen: »Die PatientIn projiziert ihre Angst auf mich«, beschreiben wir die Situation aus der kontextuellen Perspektive, wir konzentrieren uns auf einzelne Elemente, die in einem System interagieren. Solch eine Beschreibung kann hilfreich sein, weil sie dem Erleben der TherapeutIn Bedeutung verleiht. Dennoch muss die TherapeutIn im Hinterkopf behalten, dass es auch eine Feld-Theorie-Perspektive gibt, aus der projizierte Angst eine Funktion des Feldes ist, das im Hier und Jetzt ko-kreiert wird. Das Symptom, die PatientIn und die TherapeutIn sind Teile eines Prozesses, in dessen Verlauf sich diese drei Elemente gegenseitig definieren.

Aus der kontextuellen Perspektive fragt die TherapeutIn: Welche Rolle spielt die Phänomenologie der PatientIn? Er erkundigt sich nach der Funktion, die Symptome in der persönlichen Geschichte der PatientIn erfüllt haben. Wie haben sie ihr gedient? Wovor haben sie sie geschützt? Welche Bedürfnisse haben sie befriedigt? Die TherapeutIn untersucht auch den Zweck, dem sie in den aktuellen Beziehungen der PatientIn dienen. Auf welche Weise stellt ein Symptom eine kreative Lösung für eine schwierige Situation dar und welche Einschränkungen bringt ein Symptom mit sich? Die TherapeutIn konzentriert sich auf die Dynamiken der Rollen und Interaktionen zwischen den Subjekten der Systeme, zu denen die PatientIn gehört.20

Die kontextuelle Perspektive auf die Diagnose betrachtet die inneren und äußeren Unterstützungsquellen der PatientIn. Für die TherapeutIn stellen die Symptome die bestmöglichen Überlebensstrategien dar, die der PatientIn bis jetzt zur Verfügung standen. Die TherapeutIn erkundet die Rolle eines speziellen Symptoms, fragt nach, was es aufrechterhält, und ob die PatientIn noch auf andere mögliche Rollen zurückgreifen kann. Die Kooperation zwischen der diagnostizierenden TherapeutIn und der PatientIn ist dialogisch, wenn sie gemeinsam die diagnostische Beschreibung aus der kontextuellen Perspektive heraus ko-kreieren. Die TherapeutIn könnte ihre Interventionen auf die folgenden Fragen stützen: »Wie hat Ihnen Ihr Leiden oder diese spezielle Art der Beziehungsaufnahme, die Sie beschrieben haben, in Ihrem Leben geholfen? Woher kommt das? Was trägt es zum gegenwärtigen Zeitpunkt bei? Und um welchen Preis?«

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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