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3.6.1. Die symptomatische Perspektive: Fokus auf dem, was nicht gesund ist

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Es kann für GestalttherapeutInnen schwierig sein, diese Perspektive gezielt einzunehmen. Schließlich nehmen wir für uns in Anspruch, weder zu pathologisieren noch zu objektivieren. Es ist jedoch hilfreicher, nicht mit dem medizinischen Paradigma zu konkurrieren und stattdessen seinen Wert zu nutzen. Wir müssen in einem System funktionieren, das sehr stark von einem medizinischen Paradigma geprägt ist. Wir müssen medizinische Diagnosen kennen, und zwar aus dem einfachen Grund, dass sie existieren. Sie sind in jedem Fall Teil des Feldes, in dem wir leben und arbeiten. Sie finden nicht nur auf dem Gebiet der Psychotherapie Anwendung, sondern auch in der Psychiatrie, der Forschung, der Forensik und nicht zuletzt auch im alltäglichen Sprachgebrauch. Diesen Aspekt zu ignorieren würde bedeuten, uns von unserem Kontext abzuschotten. In der Folge würden wir unsere Möglichkeiten verringern, die uns anvertrauten Menschen zu unterstützen und vor einer Kategorisierung zu schützen. TherapeutInnen müssen die medizinischen Diagnosen kennen, um dahinterblicken zu können. Vorwissen ist zugleich eine Beschränkung und eine Ressource. Es stellt kein von vornherein feststehendes Wissen dar, durch das das Subjekt kategorisiert werden kann; vielmehr ist es Wissen, das zum Feld beiträgt. Das klinische Wissen und die Beziehung, die entsteht, beeinflussen sich gegenseitig.

PatientInnen kommen oft mit einer vorab geprägten Denkweise und Erwartung zur Therapie, die sie sich in einem medizinischen Kontext angeeignet haben: Es gilt, die Probleme zu identifizieren und eine geeignete Behandlung zu finden. TherapeutInnen müssen diese bestehende Einstellung von PatientInnen respektieren, um ein Arbeitsbündnis aufbauen zu können.


Abb. 1: Das Bild zeigt drei mögliche diagnostische Perspektiven von GestalttherapeutInnen. Während des Prozesses der Diagnose-Stellung ist sich die TherapeutIn des spezifischen Fokus’ bewusst, den sie einnimmt, wenn sie auf die therapeutische Situation blickt. Der Fokus entsteht durch den Kontakt-Prozess.

Wir stimmen mit Wollants (2012, 12) überein, dass »die meisten GestalttherapeutInnen zwar das Verbindende des interaktionellen Feldes hervorheben, aber trotzdem immer noch der Ansicht sind, dass Krankheit eine Kategorie psychischer Störungen ist, die den Einzelnen betreffen.« (Übers.: A. J. &. R. K.)

Wir empfehlen, diese individualistische Perspektive gezielt einzunehmen, wenn es der PatientIn hilft. Auf diese Weise sind wir in der Lage, die Perspektive des Leidens des »Zwischen« (Francesetti / Gecele 2009) oder des Leidens der Situation (Wollants 2008) zu unterscheiden und voll zu nutzen. Einen Moment lang kann sich die GestalttherapeutIn die Freiheit nehmen, sich nicht überlegen zu müssen, ob sie sich auf die Beziehung, den Prozess der kreativen Anpassung, die Feld-Theorie-Perspektive oder die Ko-Kreation von Symptomen konzentrieren »sollte«. Diese Konzepte der gestalttherapeutischen Theorie sind die wertvollsten Leitlinien für GestalttherapeutInnen. Wenn wir sie jedoch verpflichtend und starr einsetzen, werden auch sie zu integrierten Introjekten. Wir können sie einen Augenblick lang ausklammern, um die Vorteile der symptomatischen Perspektive zu nutzen.

Die TherapeutIn kann bewusst eine symptomatische Perspektive einnehmen, um sich auf die Störungen und dysfunktionalen Aspekte in der Funktionsweise der PatientIn zu konzentrieren. Der Vorteil eines solchen Ansatzes ist, dass die TherapeutIn ein klares und deutliches Bild von den riskanten und einschränkenden Merkmalen bekommt, die das Leiden der PatientIn kennzeichnen (z. B. suizidale Tendenzen, abhängiges Verhalten, Traumatisierung). Metaphorisch gesagt erhält die TherapeutIn ein grundlegendes Bild des Gebiets, das sie mit der PatientIn bereisen wird. Es ist eine Landkarte, die die gefährlichen Schluchten und Sümpfe und andere Fallen beschreibt, mit denen man dort rechnen muss. Wie die Reise vonstatten geht und welche Ausrüstung dafür nötig ist, hängt vom jeweiligen Gebiet ab. Aus diesem Grund bietet diese Perspektive große Vorteile bei der Ersterhebung (siehe z. B. Brownell 2010a; Joyce / Sills 2006), beim »Kartieren« einer kritischen Situation (z. B. Trauma oder Alkoholabhängigkeit) oder bei der Beobachtung eines Risikos (siehe auch Kapitel 17, Einschätzung des Suizidrisikos).

Die TherapeutIn richtet ihr Augenmerk bewusst auf die Beobachtung von Symptomen.17 Aus der individualistischen Sicht der symptomatischen Perspektive beobachtet die TherapeutIn die individuelle Persönlichkeitsstruktur und die Kausalität in der Funktionsweise der PatientIn: Was hat zur Entstehung eines Symptoms geführt oder dazu beigetragen (Ätiogenese) und wie haben sich die Symptome entwickelt (Pathogenese)? Die TherapeutIn diagnostiziert die Symptome möglichst exakt und sucht kritisch und gründlich nach den Elementen, die für die PatientIn nicht auf gesunde Weise funktionieren. Dabei wendet sie ihr Wissen von der allgemeinen medizinischen Psychopathologie und von theoretischen Modellen des Gestaltansatzes (und möglicherweise von anderen psychotherapeutischen Systemen) an, um die Probleme der PatientIn zu erfassen und zu benennen. Sie formuliert Arbeitshypothesen, wie die Probleme entstanden sind und wie sie aufrechterhalten werden.

Das Risiko liegt hier in der möglichen Annahme der TherapeutIn, sich das einzige und endgültige Bild vom Leiden der PatientIn gemacht zu haben. Sie muss sich der Subjektivität und der Grenzen ihrer »Symptom«-Diagnose bewusst sein und ihre Gedanken auch durch den Dialog mit der PatientIn validieren. Folgende Fragen an die PatientIn könnten den Interventionen der TherapeutIn zugrunde liegen: »Was macht Ihnen am meisten Sorgen?«, »Welche Diagnosen haben Sie in der Vergangenheit erhalten und was denken Sie darüber?«, »Warum, meinen Sie, haben Sie diese Probleme? Wie verstehen Sie die Situation?«

Alice beginnt eine Therapie, weil sie sich Sorgen macht, dass sie möglicherweise alkoholabhängig ist. Im Dialog mit dem Therapeuten wird klar, dass Alice Alkohol trinkt, wenn sie große Anspannung und Angst verspürt. Wenn die Anspannung nicht so groß ist, schafft sie es auch mehrere Wochen ohne Alkohol. Alices Anspannung ist im letzten halben Jahr stetig gestiegen. Sie hat Angst, dass etwas Schlimmes mit ihrer geistigen Gesundheit passiert. Es gibt Momente, in denen sie schreckliche Angst davor hat, verrückt zu werden. Sie fürchtet, es könnte der Anfang einer psychotischen Erkrankung sein.

Der Therapeut akzeptiert die Perspektive, aus der die PatientIn ihr Leiden betrachtet, um ein Arbeitsbündnis mit ihr zu schließen. Er nimmt freiwillig die symptomatische Perspektive ein (es ist ihm bewusst, dass es sich dabei nur um eine von vielen möglichen Perspektiven handelt), weil es die Perspektive ist, die die PatientIn im Moment einnimmt. Durch eine Einschätzung des Leidens bekommt der Therapeut auch die Orientierung, die er braucht, um die spezifische Art von Unterstützung zu ermitteln, die die PatientIn braucht.

Der Therapeut und Alice »kartieren« gemeinsam Alice’ aktuelle Schwierigkeiten. Angst, Anspannung und Sorge scheinen für sie die drängendsten Probleme zu sein. Der Therapeut erklärt Alice, dass in Zeiten extremer Angst oft die Sorge aufkommt, verrückt zu werden, dass dies jedoch nicht zu einer psychotischen Erkrankung führt. Sie finden gemeinsam heraus, dass das Trinken von Alkohol die Anspannung reduziert und für sie überlebbar macht. Alice beruhigt sich sichtlich, sie kann ihre Ängste bezüglich der Psychose beiseitelegen. Gemeinsam mit dem Therapeuten fokussiert sie sich mehr auf ihr Erleben von Anspannung und Angst. Sie erkunden, wann die Anspannung auftaucht, wann sie sich zur Panik auswächst. Gleichzeitig beleuchten sie, unter welchen Umständen sie nachlässt und was Alice dabei hilft, weniger Anspannung zu verspüren.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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