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3. Diagnose: Ein gestalttherapeutischer Ansatz Jan Roubal, Michela Gecele und Gianni Francesetti 1. Einleitung

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Ist das Stellen einer Diagnose zwangsläufig eine objektivierende Handlung? Verhindert eine Diagnose den Kontakt oder unterstützt sie den therapeutischen Prozess? Diese Fragen haben uns angeregt, dieses Kapitel zu schreiben. Wir, die Autoren, sind zwei Psychiater und eine Psychiaterin und bringen unsere Kompetenz und unsere Art zu denken in diese Arbeit ein. Wir können und wollen weder das eine noch das andere vergessen. Vielmehr versuchen wir, diese beiden Aspekte zu formulieren und sie anzuwenden, um einen präziseren Beitrag zu leisten und mögliche Brücken zwischen der psychiatrischen Praxis und der Gestalttherapie zu bauen.1

Eine Diagnose kann als ein Zeichen verstanden werden, das der klinischen Situation Bedeutung verleiht. Die GestalttherapeutIn ist im Hier und Jetzt der Begegnung mit der KlientIn verwurzelt, sie versteht die Situation auf eine bestimmte Art und Weise, orientiert sich in ihr und richtet ihre Interventionen danach aus. An diesem Punkt scheint eine Reisemetapher nützlich. In einer Psychotherapie begeben sich TherapeutIn und KlientIn gemeinsam auf eine Entdeckungsreise. Die TherapeutIn übernimmt eine bestimmte Rolle und Verantwortung, manchmal führt sie, manchmal lässt sie sich führen. Gemeinsam entdecken sie die interessanten, nützlichen und riskanten Eigenarten des Geländes. Ihre Reise kann ein klares Ziel haben oder auch nicht.

Sie können sich verirren. Dann muss die TherapeutIn innehalten und sich mithilfe von Landkarten orientieren. Wenn das in einer klinischen Situation der Fall ist, muss sich die TherapeutIn vorübergehend zurückziehen und sich Zeit nehmen, damit sich ihr die Bedeutung der therapeutischen Situation erschließt.2 Nun kann sie dieser Bedeutung einen Namen geben, d. h. sie stellt eine Diagnose. Die TherapeutIn verändert vorübergehend und bewusst den Fokus.

In diesem Moment konzentriert sie sich nicht auf die KlientIn und die Beziehung. Vielmehr richtet sie ihr Augenmerk darauf, die Bedeutung der Situation zu beschreiben, die hier einen »Dritten« darstellt. Durch die vorübergehende Verlagerung des Fokus flieht die TherapeutIn nicht aus dem Kontakt mit der KlientIn, sondern fördert ihn, wie jemand, der auf einen Punkt auf einer Landkarte zeigt und sich Informationen für die Weiterreise beschafft. So gehen Interventionen in verschiedene Richtungen, je nachdem, ob KlientIn und TherapeutIn z. B. Teil eines Borderline-Feldes oder Teil eines psychotischen Feldes sind. In einer klinischen Situation dient eine Diagnose als Landkarte. Dabei muss die Landkarte komplexe Sachverhalte vereinfachen, um von Nutzen zu sein. Aus diesem Grund sollten wir es einer Diagnose nicht ankreiden, wenn sie das Leiden eines Menschen nicht in seiner ganzen Komplexität erfasst.

Bei der Ausrichtung einer therapeutischen Beziehung gibt es zwei Arten von Diagnosen (Francesetti / Gecele 2009). Die erste, die wir oben kurz beschrieben haben, können wir die extrinsische (also von außen kommende) oder Landkartendiagnose nennen. Sie ergibt sich aus einem Vergleich zwischen einem Modell des Phänomens und dem Phänomen selbst und entsteht, wenn sich die TherapeutIn bewusst darauf konzentriert, die Bedeutung der Situation zu beschreiben. In der Begegnung mit der KlientIn kann die TherapeutIn jedoch nicht immer wieder einen Moment lang innehalten und überlegen, wie sie die Situation versteht. In der Praxis kann sie das nur von Zeit zu Zeit und wahrscheinlich meist erst nach der Sitzung tun. Im Dialog antwortet die TherapeutIn sofort. Sie reagiert unmittelbar mit einem Wort, einer Geste oder einem bestimmten Tonfall. Hier hat sie auch Orientierungshilfen für ihre Reaktionen. Diese Orientierungshilfen entstehen nicht aus einer vorübergehenden Verlagerung des Fokus (vom Gelände auf die Landkarte), sondern vielmehr dadurch, dass sie sich ganz auf den Fluss der Beziehung einlässt. Die TherapeutIn fühlt sich vollkommen in den Kontaktprozess eingebunden und unterstützt die Beziehung in ihrer Gesamtheit.

Die zweite Art der Diagnose, die spezifische Diagnose der Gestalttherapie, können wir intrinsische (also inhärente) oder ästhetische Diagnose nennen. Sie entsteht aus dem ästhetischen Kriterium (Joe Lay, in Bloom 2003) und ergibt sich aus der Wahrnehmung des Flusses und der Anmut dessen, was passiert oder eben nicht passiert. Nach dieser Wahrnehmung richtet die TherapeutIn ihr Mit-der-KlientIn-Sein aus. Wir können die extrinsische Diagnose mit einer Landkarte des Geländes der therapeutischen Gegebenheiten vergleichen. Die intrinsische Diagnose können wir als Gespür für die Richtung betrachten, dem die TherapeutIn auf ihrer Reise durch das Gelände folgt. Beide Arten der Diagnose dienen der TherapeutIn zur besseren Orientierung, doch jede auf andere Weise. Eine Landkarte bietet Überblick und Verstehen, das Gespür für die Richtung ist wichtig für unmittelbare Entscheidungen und Schritte auf unbekanntem Terrain.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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