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Gordon Wheeler

Zugehörigkeit und Abgrenzung, Identität und Evolution, Bewahrung und Wandel: Dies sind die essenziellen elementaren Dynamiken, die wir als Definitionen von Beziehung (differenzierte Verbindung), Komplexität (ein Feld im Sinne von Beziehungs-Dynamiken) und auch des Lebens selbst betrachten (jedes begrenzte Sub-Feld, das sich durch die Fähigkeit auszeichnet, in seinem eigenen Interesse zu handeln). Seit unser gestalttherapeutisches Modell vor einem Jahrhundert in den Psychologielaboren der frühen Gestaltpsychologen seinen Anfang nahm, steht es unverrückbar dafür, dass es die Komplexität dieser Beziehungsprozesse respektiert, wie lebende Subjekte sie bei dem Versuch real erleben, ihre eigenen kreativen Anpassungen angesichts der sich verändernden Bedingungen wirksam zu machen. Daher richtete die gestalttherapeutische Forschung ihr Augenmerk bald auf das Verständnis der Prozesse und Strukturen, durch die menschliche Subjekte die von ihnen wahrgenommenen Welten organisieren und interpretieren, indem sie Ereignisse mittels Interpretation, Bewertung und Handlung in schlüssige Erfahrung verwandeln.

Die anwendungsbezogene Forschung, das integrative Werkzeug und die Perspektive, der der Gestaltpsychologe Kurt Lewin den Weg bereitet hat, kennzeichnet die gestalttherapeutische Methode und Haltung: Wir sehen alles als ein Experiment, erleben dessen Ausgang und folgern daraus, welche Muster es gibt, die funktional/flexibel oder unkreativ/ verfahren sind. Dann fördern wir neue Tests, mit denen die Brauchbarkeit dieser Folgerungen geprüft wird, dekonstruieren alle Muster, die nicht länger anwendbar sind und so weiter. Alles, was wir in der Gestalttherapie tun, kann als Variation dieses anwendungsbezogenen Forschungsansatzes betrachtet werden; und alles ist potenziell neues Material für ein laufendes Experiment, nämlich das Leben selbst.

Indem sie sich auf die wegweisende Arbeit von Lewin und anderen stützen, die diesen revolutionären Ansatz zum Verständnis menschlicher Prozesse aus den Psychologielaboren hinaus in reale Lebenssituationen trugen, versuchten Goodman, Perls und ihre ersten Mitarbeiter in den 1950er-Jahren, dieses Vermächtnis in eine Methode zu verwandeln, die sich auf das Individuum und auf Gruppen, ja, auch auf das alltägliche Leben anwenden ließ. Wie Spagnuolo Lobb hier richtig darlegt, taten sie dies notwendigerweise im Kontext ihrer Zeit und ihrer persönlichen Geschichten. In dieser Nachkriegsära, als sich die Gesellschaft noch immer an der »Hochwassermarke« des Massenfaschismus des 20. Jahrhunderts befand, leuchtet es ein, dass ein Individualismus nach Sartre und ein »autonomes Wertkriterium« als vertrauenswürdigste Basis für die Wiederherstellung der Gesundheit, der Kreativität und der freien Bewegung des menschlichen Geistes galten (obwohl dieser Ansatz einigen der Feld/Beziehungs-Implikationen des Gestaltvermächtnisses widersprach). Heute, im Zeitalter des weicheren Faschismus der Konsumgesellschaft, von Massenmedien und tiefgreifender Isolation, ist unsere Situation und sind unsere Bedürfnisse anders gewichtet. Unsere Methode muss sich kreativ entwickeln, um ihren Wurzeln und ihrer Identität sowie ihrem theoretischen und praktischen Potenzial gerecht zu werden.

Diese Art der kontextuellen Perspektive bildet die Basis der hermeneutischen Forschung, die Spagnuolo Lobb seit Langem auf unserem Gebiet erfolgreich durchgeführt hat: der Anspruch, dass wir jede Aussage unserer Kernprinzipien und jeden identitätsstiftenden Text »von innen heraus« verstehen, im Hinblick auf die perspektivischen Werte und Entscheidungspunkte, die Aussage oder Text im Kontext ihrer eigenen Situation voranbringen – so wie wir, die wir von unserer eigenen aktuellen Situation geprägt sind, diese Werte und Entscheidungen interpretieren. Damit gelangen wir in den offenen »hermeneutischen Kreis« endlos rekursiver kreativer Interpretationen. Weil ein Dialog von Interpretationen, welche auch reflexive Interpretationen unserer eigenen Perspektive im Hier und Jetzt enthalten, die wirkliche Essenz und Natur unseres menschlichen Kontaktprozesses ist. Wir schaffen Bedeutungen, ko-kreativ, und gehen weiter; und wir wissen, dass diese Bedeutungen niemals fertig, nie endgültig sind.

Aber was ist diese Identität? Was sind diese »Kernprinzipien«, an denen wir uns orientieren sollen, wenn wir in diesem hermeneutischen Prozess handeln und leben, im Dialog mit (unserer Interpretation) der grundlegenden Identität unseres Vermächtnisses, in einer dialektischen Auseinandersetzung mit (unserer Interpretation des) dem Kontext der ursprünglichen Darstellungen dieser grundlegenden Prinzipien und (wiederum unserer Interpretation) unserer Situation heute? Dieser Prozess kann sich dann wie ein belebendes Abenteuer in einer immer neuen Welt anfühlen – oder eher wie eine verstörende Reihe von Zerrspiegeln, wie Schattenboxen, ohne dass man sicheren Boden unter den Füßen hat. Der Unterschied zwischen diesen beiden Reaktionen auf die Herausforderung der hermeneutischen Perspektive liegt, aus gestalttherapeutischer Sicht, in der Qualität und der Quantität der Unterstützung, die angesichts dieser Herausforderung und aus dem Feld heraus angeboten und genutzt wird. Von fundamentalster Bedeutung für diese Unterstützung ist selbstverständlich die Qualität von Anwesenheit und Kontakt, die von Kliniker/Moderator/ therapeutischem Praktiker im Prozess der Intervention angeboten werden.

Spagnuolo Lobbs Ansatz in diesem Text bietet uns die Unterstützung einer äußerst nützlichen und kreativ aktualisierten Übersicht der Kern-Topoi oder thematischen Hauptanziehungspunkte unseres theoretischen Erbes, wie sie im Text von 1951 dargelegt wird. In ihrer Auseinandersetzung mit dem Thema hat sie jede der Schlüsselthematiken des ursprünglichen Textes nahtlos mit der wachsenden Bedeutung des Beziehungsaspekts verbunden, der die darauf folgenden 60 Jahre der Gestalttherapie kennzeichnet (eine Entwicklung, bei der Spagnuolo Lobb selbst eine wichtige Rolle gespielt hat). Das Ergebnis ist höchst stimmig und unmittelbar anwendbar, sei es im klassischen Setting einer Eins-zu-eins-Therapie, in einem dyadischen oder einem Gruppensetting. Den hier entwickelten Themenkatalog nicht nur auf diese Konstellationen, sondern auch auf größere soziale Formate anzuwenden, mag noch ein größerer Schritt sein, so wie es auch ein großer Schritt war, Goodmans und Perls (oder auch Freuds) ursprüngliche Darlegungen dieser Themen auf größere Gruppen und andere Settings anzuwenden.

Eine andere Herangehensweise an diese Frage könnte ein Schritt zurück zur ursprünglichen Untersuchung der Entstehungsprozesse der Erfahrungsbildung selbst sein, wie sie die ersten vier Jahrzehnte der Gestaltforschung und -praxis bis hin zu Goodmans und Perls Arbeit geprägt hat und wie sie auf nützliche Weise in Lewins anwendungsbezogener Forschungsperspektive zusammengefasst ist, auf die ich oben Bezug genommen habe. In der heutigen internationalen Gestaltlandschaft ist die individuelle Therapie nur ein kleiner Teil der vielfältigen Anwendungen der zeitgenössischen Gestalttheorien und -methoden. Diese Anwendungen reichen von psychologischer Beratung, Gruppenarbeit, Paar- und Familientherapie, Lebensberatung und Coaching für Führungskräfte, organisatorischem Consulting, Management, Angeboten für intensive Gruppentherapie, im Bildungsbereich bis hin zu politischer Arbeit und Organisation auf unterschiedlichen Ebenen. Neben Spagnuolo Lobbs lebendiger neuer Darlegung brauchen wir weitere Sichtweisen auf diesen reichhaltigen hermeneutischen Dialog, um all die fruchtbaren Anwendungen unseres Gestalterbes aufzunehmen.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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