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3.4. Der gestalttherapeutische Ansatz und Diagnose

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Der reflektierte, kritische und integrierte Einsatz aktueller Nosologien kann ein Beitrag zur Therapie sein. Es ist Sache der GestalttherapeutIn, diese Welt und Tradition geschickt in die Beziehung einfließen zu lassen und nicht einfach objektivierende Raster »auszuleihen«, die der Gestalttherapie fremd sind. Hier sehen wir uns dem Paradox des hermeneutischen Zirkels gegenüber: ein Kreis, in dem das Wissen über Diagnosen und Psychopathologie gleichzeitig eine notwendige Voraussetzung und ein unüberwindbares Hindernis für das Verständnis des Leidens darstellen (Gadamer 1960, 312; Spagnuolo Lobb 2001c). Durch die Bewusstheit dieser Zirkularität wird aus dem diagnostischen Prozess ein beziehungsorientierter Prozess.

Aus gestalttherapeutischer Sicht ist eine Diagnose der Prozess, die sich herausbildende Bedeutung der komplexen und veränderlichen klinischen Situation zu benennen. Eine gestalttherapeutische Diagnose zielt nicht auf feste Schlussfolgerungen ab (Brownell 2010a), sondern dient als flexible und momentane Arbeitshypothese (Höll 2008), die es der TherapeutIn ermöglicht, sich in einer klinischen Situation zu orientieren und zu überlegen, welche therapeutischen Wege angemessen und passend sind. Eine Diagnose ist dann am nützlichsten, wenn sie deskriptiv, phänomenologisch und flexibel gehalten wird (Joyce / Sills 2006). Durch den Dialog mit der PatientIn ko-kreiert und korrigiert die GestalttherapeutIn die Diagnose immer wieder. Die TherapeutIn, die eine Diagnose formuliert, repräsentiert ein Element, das untrennbar mit dem gegenwärtigen Beziehungsnetz verbunden ist. Daher sind die Phänomene der Interaktion zwischen TherapeutIn und PatientIn wichtige Objekte des explorativen Interesses der TherapeutIn.

Im Laufe der Geschichte haben GestalttherapeutInnen Diagnosen entweder umgangen9 oder versucht, eine spezifisch gestalttherapeutische Version des Diagnosesystems zu schaffen (Brownell 2010a). Der gestalttherapeutische Ansatz stand traditionellerweise gegen die objektivierende, pathologisierende und depersonalisierende Etikettierung von Menschen (Perls / Hefferline / Goodman 2006), wie sie in der Medizin und der frühen Psychoanalyse weit verbreitet war. Auf der Grundlage der Verbindung der Feldphänomene und der Einzigartigkeit der Lebensgeschichte jedes Menschen wurden unterschiedliche theoretische Schlussfolgerungen hervorgehoben.10

Andererseits ergab sich im gestalttherapeutischen Ansatz immer auch die Notwendigkeit, sich mit Typologien zu befassen, um der TherapeutIn eine Orientierungshilfe zu geben und um die Art der Intervention zu bestimmen (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006). Diagnosen lassen sich nicht vermeiden, und so steht man vor der Wahl, sie unachtsam und nachlässig oder durchdacht und achtsam zu stellen (Yontef 1993). GestalttherapeutInnen sind sich des Risikos bewusst, dass sie statt der PatientIn möglicherweise die Diagnose behandeln und dass sich ihr Ansatz depersonalisierend und anti-therapeutisch auswirken kann. Sie sind sich auch darüber im Klaren, dass eine Ablehnung von Diagnosen und Differenzen zwischen Menschen einen ähnlichen Effekt haben können (Delisle 1991).

Obwohl klinische und diagnostische Modelle mit einem gemeinsamen gestalttherapeutischen Unterbau erst noch entwickelt werden müssen, gab es bereits zahlreiche Versuche, ein Diagnosesystem zu erstellen (z. B. Tobin 1982; Delisle 1991; Swanson / Lichtenberg 1998; Melnick / Nevis 1998; Baalen 1999; Fuhr / Sreckovic / Gremmler-Fuhr 2000; Dreitzel 2004; Siegel 2007; Francesetti / Gecele 2009; Dreitzel 2010, Schübel 2011; Roubal 2012). Diese Autoren geben sich große Mühe, sowohl Begriffe aus der allgemeinen Psychopathologie als auch der Gestalttherapie zu verwenden. Dies ist keine leichte Aufgabe, da die psychopathologische und die gestalttherapeutische Terminologie unterschiedlichen Paradigmen entspringen. Viele Autoren konzentrieren sich auf die Verbindung zwischen Leiden und der Art, in der der Kontakt unterbrochen wird, wie sie im letzten Teil von Perls / Hefferline / Goodman (1951, 2006) kurz angesprochen wird. Solche Analysen bieten einen Leitfaden für den therapeutischen Prozess und verschiedene Interpretationsmöglichkeiten (Salonia 1989b, 1989c; Müller et al. 1989; Spagnuolo Lobb 2003a).

Die gestalttherapeutische Diagnose konzentriert sich auf die Art des In-Kontakt-Tretens zwischen der PatientIn und ihrer Umwelt und beschreibt die Prozesse, die an der Kontaktgrenze11 ablaufen. Bei einem gesunden Kontakt gibt es eine flüssige Kontaktsequenz, eine Abfolge von Kontaktnahme und Rückzug aus dem Kontakt. Wenn diese Prozesse blockiert sind, wird der Kontakt als ungesund angesehen (Korb / Gorrel / Van de Riet 1989). Die Kontaktsequenz kann ein Abfallen der Intentionalität oder Verluste von Spontanität aufweisen, die ursprünglich als Kontaktunterbrechungen oder Kontaktstörungen bezeichnet wurden (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006) und die man heute oft als Kontaktmodifikationen darstellt (siehe Kapitel 23 über Angst). Die Gestalttherapie untersucht, wie und wann sie auftreten können. Sie lehrt uns, diese Kontaktmodifikationen wahrzunehmen, wenn sie rigide angewandt werden und eine breite Palette von Kontaktmöglichkeiten anzubieten, um die Beziehung zu unterstützen (Perls / Hefferline / Goodman 1951, 2006; Salonia 1989c; Spagnuolo Lobb 1990; Robine 2006a).

Eine gestalttherapeutische Auslegung eines Beziehungsleidens hat verschiedene theoretische Instrumente an der Hand:

1. Figur/Hintergrund-Dynamik,

2. das Selbst und seine Funktionen: Ich-, Es- und Persönlichkeitsfunktion,

3. Intentionalität und die Unterbrechung des Kontakts (Kontaktstile und Kontaktsequenz),

4. Abschnitte im Lebenszyklus,

5. existenzielle und spirituelle Fragen,

6. Hintergrund und Geschichte der Beziehung (Familie, Paar, Gesellschaft),

7. der nächste Schritt im Kontakt und in der Beziehung: Auf welches beziehungsorientierte Erleben bewegt sich das Subjekt zu?

Hier ist jedoch Vorsicht angesagt. Wenn partielle Modelle aus der Gestalttherapie für die Diagnosestellung verwendet werden (z. B. die Kontaktsequenz und die Kontaktstile), besteht das Risiko, dass der Versuch, die klinische Situation zu erfassen, den theoretischen Grundlagen der Gestalttherapie zuwiderläuft. Es macht z. B. kaum einen Unterschied, ob man eine PatientIn als »depressiv« oder als »Introjektor« bezeichnet. In beiden Fällen gibt man ihr die Bezeichnung »dort« und ignoriert den wesentlichen Beitrag des gestalttherapeutischen Ansatzes, nämlich die Offenheit gegenüber Begegnungen und das Vertrauen auf den Prozess. Brownell (2010a, 190) stellt die Frage: »Wie sprechen wir über die PatientIn, ohne der PatientIn zu schaden?«

Es ist die phänomenologische Realität des Hier und Jetzt der therapeutischen Beziehung, des Kontakts zwischen TherapeutIn und PatientIn, die die Grundlage der gestalttherapeutischen diagnostischen Methodologie darstellt. Diese Realität ist der Bezugsrahmen, auf den die TherapeutIn bei der Diagnosestellung zurückgreifen sollte. Modelle müssen auf dieser Realität aufbauen, um eindeutig zum gestalttherapeutischen Ansatz zu gehören und keine Mischung aus anderen Theorien zu sein, die, so stichhaltig sie auch sein mögen, auf anderen epistemologischen Prinzipien basieren (Spagnuolo Lobb 2001a, 90). In der Gestalttherapie ist eine Diagnose ein Versuch, Beziehungsleiden zu erfassen, ohne es als Charakteristikum eines Individuums zu betrachten.

Konzeptuelle gestalttherapeutische Werkzeuge ermöglichen es uns, das Erleben hervorzuheben, zu benennen und zu kommunizieren. Auf diese Weise wird das Erleben der PatientIn übersetzt – wenngleich es unweigerlich auch verraten wird. Dieses Paradoxon ist dennoch hilfreich: Die Wahrheit unserer Worte – und Diagnosen – beruht auf der Tatsache, dass sie durch das Kontakterleben ko-konstruiert werden. Das wird in der Gestalttherapie betont. Durch die Diagnose, die sich daraus ergibt, wird nichts über den Menschen ausgesagt; sie betrifft die Beziehungsphänomene, die ko-kreiert wurden, und repräsentiert den Ausdruck und die Bewertung der Beziehung, nicht des Individuums. Obwohl es schwierig sein mag, sich im Rahmen innerhalb eines beziehungsorientierten Paradigmas zu bewegen, ist dies der Horizont, auf den wir uns entschieden zubewegen sollten.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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