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3.6. Es gibt verschiedene Landkarten

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Wie wir schon mehrfach betont haben, bewegt sich der laufende Prozess einer Diagnosestellung auf den Horizont des beziehungsorientierten Paradigmas zu, wo er ko-kreierte Phänomene und nicht das Individuum betrifft. Diese Orientierung ist wesentlich für einen gestalttherapeutischen Ansatz. In ihrer täglichen Praxis nutzen GestalttherapeutInnen jedoch auch diagnostische Werkzeuge, die in anderen Paradigmen verwurzelt sind. Wie soll man mit diesem Dilemma umgehen?

Stellen Sie sich vor, Sie gehen in einen Park und bemerken eine Skulptur. Sie sehen sie an, befühlen und erkunden sie. Dann gehen Sie um sie herum und sehen sie sich von einer anderen Stelle aus an. Es ist dieselbe Skulptur und trotzdem nehmen Sie sie jetzt anders wahr. Dann verändern Sie ihre Position noch einmal und sehen sich die Skulptur aus einer anderen Perspektive an. Eine Perspektive ist nicht genug, um der Skulptur gerecht zu werden. Diese Metapher wird hier für eine klinische Situation und Diagnose verwendet. Es gibt eine epistemologische Meinungsverschiedenheit zwischen medizinischen und gestalttherapeutischen Ansätzen, die jedoch nicht zwangsläufig zu einem unproduktiven Konflikt führt, wie eine Aussage ähnlich der folgenden es täte: »Man muss die Skulptur aus dieser Perspektive betrachten!« Stattdessen kann die BeobachterIn sich ihres Standortes stärker bewusst sein und erkunden, welche Perspektiven sich von anderen Standorten aus ergeben. Was wir sehen, hängt von unserer Beobachtungsposition ab. Unterschiedliche Perspektiven führen zu unterschiedlichen Landkarten und unterschiedlichen Diagnosen derselben klinischen Situation.16

Die Begegnung mit einer PatientIn bedeutet für die TherapeutIn ein komplexes Erleben. Sie kann eine multidimensionale Diagnose erstellen, indem sie unterschiedliche Betrachtungsweisen nutzt und die Perspektiven flexibel verändert, aus denen sie die therapeutische Situation beobachtet. Es ist wichtig, dass diese Perspektiven nicht hierarchisch bewertet werden, sodass eine als höher oder besser gilt als eine andere. Die Perspektiven stehen nicht in gegenseitiger Konkurrenz, sondern ergänzen sich vielmehr und bilden gemeinsam eine multidimensionale Diagnose. Eine Diagnose muss multidimensional sein, um zuverlässig durch das komplexe Gebiet zu führen, das eine TherapeutIn bei der Begegnung mit einer PatientIn betritt. Das Stellen einer multidimensionalen Diagnose reduziert das Risiko, dass wir unser eigenes Konzept behandeln, anstatt uns voll auf einen lebenden Menschen einzulassen. Sie befähigt uns, den Bedürfnissen der PatientIn im Hinblick auf verschiedene Dimensionen ihres Lebens zuzuhören (entwicklungsorientiert, beziehungsorientiert, spirituell, psychosomatisch usw.) und fördert guten Kontakt.

Der Inhalt einer Diagnose hängt von der Perspektive ab, aus der die TherapeutIn die klinische Situation beobachtet. Es ist von größter Wichtigkeit, dass die TherapeutIn erkennt, welche Perspektive sie in einem bestimmten Moment einnimmt. Sollte sie die unterschiedlichen Perspektiven miteinander verwechseln, verlieren sie ihren Nutzen für die Diagnosestellung.

Bei der Diagnosestellung bieten sich für GestalttherapeutInnen drei unterschiedliche Perspektiven an (siehe Abbildung 1). Diese drei Perspektiven tauchen oft in der Literatur zur Gestalttherapie auf, außerdem greifen GestalttherapeutInnen bei der Schilderung ihrer klinischen Arbeit häufig darauf zurück. Dennoch werden sie meist nicht deutlich genug voneinander abgegrenzt, was zu einer Verwirrung der theoretischen Grundlagen führt und ihren Nutzen für die tägliche psychotherapeutische Praxis einschränkt. Wir wollen hier ein Werkzeug vorstellen, mit dessen Hilfe sich diese drei Möglichkeiten der Konzeptualisierung einer Situation erkennen und umsetzen lassen: die »ko-kreative Perspektive«, die »kontextuelle Perspektive« und die »symptomatische Perspektive«.

Aus der ersten Perspektive, die einen Beitrag der Gestalttherapie zum psychotherapeutischen Feld darstellt, beobachtet die TherapeutIn einen Prozess der Ko-Kreation der Feldorganisation im Hier und Jetzt. Aus der zweiten Perspektive beobachtet sie Interaktionen und Rollen innerhalb eines Beziehungssystems sowie die Geschichte dieser Interaktionen und Rollen. Und aus der dritten Perspektive beobachtet sie klinische Symptome. Diese Perspektiven gezielt und getrennt voneinander einzunehmen, hilft der TherapeutIn dabei, sich ihrer individuellen Vorzüge und Grenzen bewusst zu werden. Jede Perspektive ergibt eine andere Art von Landkarte. Die verschiedenen Landkarten ergänzen sich schließlich und bilden eine multidimensionale Diagnose. Jede Landkarte beschreibt unterschiedliche Eigenschaften des Gebiets und ist in unterschiedlichen Situationen von Nutzen.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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