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2. Intrinsische oder ästhetische Diagnose

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Es gibt zwei Arten der Evaluation: die intrinsische und die vergleichende. Intrinsische Evaluation geschieht im Verlauf jedes Geschehens; es ist die Gerichtetheit des Prozesses, die unerledigte Situation, die sich zu einem Abschluß hin, die Spannung, die sich auf den Orgasmus zubewegt usw. Bei dieser Evaluation ergibt sich der Standard aus dem Geschehen und ist letztlich das Geschehen selbst als Ganzes. (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 101)

In jedem Augenblick finden auf chaotische und unvorhersagbare Weise Interaktionen zwischen TherapeutIn und PatientIn statt, die in Sekundenbruchteilen Tausende Elemente ins Spiel bringen. Die Interaktion ist unglaublich komplex: Sie ist visuell, auditiv, taktil, muskulär, glandulär, neurologisch, gustatorisch und olfaktorisch und reaktiviert Erinnerungsschichten, die abwartend fluktuieren, bereit, zur Bildung einer Figur beizutragen. Außerdem umfasst sie Erwartungen und Vergleiche mit Tausenden von Kontakten und Gesichtern. Wie sollen wir uns in dieser Komplexität zurechtfinden?

Wir können die Situation beobachten, beschreiben und eine Landkarte erstellen, die als Werkzeug zur Orientierung dienen kann. Wie man diese Landkarte, eine extrinsische Diagnose, erstellt und verwendet, wird später in diesem Kapitel beschrieben.

Wir können aber auch in diesem Beziehungschaos bleiben, navigieren und auf den Wellen dieses Meeres schwimmen, »das niemals stillsteht«. Die Orientierung wird dann durch eine Diagnose ermöglicht, wie sie traditionellerweise in der Gestalttherapie kultiviert wird. Sie basiert auf einer gefühlten ästhetischen Bewertung und entsteht Moment für Moment an der Kontaktgrenze. Die Bezeichnung »Diagnose« trifft auch deshalb zu, weil sie der TherapeutIn Orientierung bietet. Außerdem stellt sie Wissen (gnosis) um das Hier und Jetzt in der Beziehung durch (dia) die Sinne dar. Bei dieser Diagnose wird kein Vergleich zwischen einem Modell und einem Phänomen angestellt. Wir nennen diese zweite Art von Diagnose die »intrinsische oder ästhetische Diagnose«, weil sie prozessinhärent ist und auf der Wahrnehmung durch die Sinne basiert (auf Griechisch bedeutet aisthesis »durch die Sinne wahrnehmbar«).

Diese Art der Orientierung basiert auf einer intuitiven Evaluation einer Kontaktsituation: Es handelt sich um eine bestimmte Art von Wissen, die an der Kontaktgrenze in einem Moment entsteht, in dem Organismus und Umwelt noch nicht voneinander getrennt sind. Aus diesem Grund ist das ästhetische Wissen implizit (prä-verbal) und bereits auf die intersubjektive Dimension abgestimmt (D’Angelo 2011; Desideri 2011; Francesetti 2012). Orientierungshilfen für die nächste Intervention werden anhand von ästhetischen Kriterien unmittelbar bewertet. Erst später kann die TherapeutIn ihren Entscheidungsprozess (meist ziemlich vage) benennen: »Es schien in diesem Moment das Richtige zu sein«, »ich hätte in dieser Situation nicht gewagt, das zu sagen« usw. Es wird keine Zeit auf kognitive Prozesse verwandt, denn diese Art der Evaluation ist prä-kognitiv und prä-verbal und impliziert nicht nur einen passiven Vorgang sondern auch Aktivität, die die TherapeutIn direkt in die Intervention führt. Wenn wir mit intrinsischen Diagnosen arbeiten, benutzen wir die Intuition3 als Quelle der Unterstützung für die TherapeutIn. Die unmittelbarsten Interventionen werden nicht aufgrund bewusster kognitiver Überlegungen umgesetzt. Vielmehr gibt die Achtsamkeit der TherapeutIn mithilfe der ästhetischen Kriterien die Richtung vor. Oft kann die TherapeutIn erst nach der Sitzung verbal beschreiben und kognitiv verstehen, was sie getan hat und was die Gründe für eine Intervention waren.

Dies bedeutet nicht, dass die TherapeutIn chaotisch arbeitet. Ihr Verstehen der klinischen Situation und ihre Interventionen basieren auf ihrer Intuition, die durch Erfahrung und Ausbildung stetig vervollkommnet wird. Eine gut entwickelte Intuition ermöglicht es der TherapeutIn, die zarten Nuancen der therapeutischen Situation sensibler wahrzunehmen, sodass sie auch ohne kognitiven Prozess unmittelbar und angemessen intervenieren kann. Die Intuition führt sie durch ein Geflecht minimaler Signale in den Raum »dazwischen«, für den Worte und Gedanken zu grobe Instrumente sind.

Was bedeutet es wirklich, eine intrinsische Diagnose zu stellen? Achtsam, wach, mit allen Sinnen aktiv und gleichzeitig entspannt zu sein und sich von dem berühren zu lassen, was passiert (Spagnuolo Lobb 2004b; Francesetti 2012). Zuversichtlich zu bleiben, dass das Chaos tatsächlich »Sinn« macht und dass sich mit der nötigen Unterstützung eine Bedeutung zeigt. Die TherapeutIn ist nicht desorientiert, sondern anwesend. Sie ist nicht untätig, sondern bereit, den Tanz mitzutanzen, der sich an der Grenze entwickelt, wo PatientIn und TherapeutIn in Kontakt treten. Die TherapeutIn ist bereit, Intentionalität zu erfassen und die Entfaltung des Atems zu unterstützen. Die auf Kontakt gerichtete Intentionalität bringt Ordnung in das intersubjektive Chaos. Wenn der Pfeil der Intentionalität seinen Schwung verliert und zu Boden fällt, wird er von der TherapeutIn wieder aufgehoben, die ihm neue Energie verleiht. Momente vollständigen Kontakts lassen sich nicht vorhersagen: Wir wissen nicht, wann sie auftauchen, in welcher Minute oder Sekunde des Kontaktes. Sie tauchen jedoch nicht zufällig auf: Die TherapeutIn hilft beim Zustandekommen dieser Momente, indem sie die Intentionalität der PatientIn unterstützt, die sich Sekunde um Sekunde entfaltet und auf die Intentionalität der TherapeutIn trifft (Bloom 2009, 2011a).

Der therapeutische Prozess orientiert sich an der Intentionalität. Ein Verlust des Schwungs, ein Abfallen oder eine Störung in der Intentionalität veranlassen die TherapeutIn zu intervenieren: Auch Ruhe, Reglosigkeit oder eine kaum wahrnehmbare Bewegung können Interventionen darstellen. Die Intervention ist auf die »Fertigstellung« einer Gestalt ausgerichtet und unterstützt das Potenzial, das bereit ist, in Erscheinung zu treten. Wie bemerkt die TherapeutIn eine Bewegung oder Unterbrechung der Intentionalität? Sie muss an der Kontaktgrenze anwesend sein, mit wachen Sinnen und achtsam den körperlichen, gefühlsmäßigen und kognitiven Resonanzen gegenüber. Diese Resonanzen tauchen nur verschwommen auf. Sie zeigen sich nicht durch einen kognitiven Prozess, sondern brauchen Zeit um sich zu entfalten und können nur durch eine spätere Reflexion erkannt werden.

Ein entscheidendes Kriterium leitet diese Achtsamkeit: das ästhetische Kriterium (Joe Lay, in Bloom 2003), das TherapeutIn und PatientIn zur Ko-Kreation einer guten Kontakt-Gestalt führt.

An dieser Stelle sei noch einmal darauf hingewiesen, dass bei diesem diagnostischen Ansatz kein Vergleich zwischen dem Modell eines Phänomens und dem Phänomen selbst gezogen wird, wie es bei diagnostischen Landkarten der Fall ist. Hier haben wir die Wahrnehmung der Fluidität und Anmut, dessen, was passiert oder eben nicht passiert. Daran orientiert sich die TherapeutIn, wenn sie ihr Mit-der-PatienIn-Sein anpasst. Es ist ein falscher Ton, ein Pinselstrich an der falschen Stelle, eine Berührung zu viel oder zu wenig, ein bisschen zu früh oder ein bisschen zu spät. Es ist kein von vornherein feststehendes Modell, das uns leitet, sondern die einzigartigen, speziellen ästhetischen Qualitäten einer menschlichen Beziehung in dieser bestimmten Situation. Genauso wie wir einen falschen Ton erkennen, spüren wir, dass sich in wechselseitigen Antworten etwas nicht am richtigen Ort oder zur richtigen Zeit befindet oder so undefinierbar seltsam oder erschöpft ist.

Die Dreh- und Angelpunkte dieses diagnostischen »Sekunde für Sekunde«-Ansatzes liegen im Hier (dem Erleben des Raums) und Jetzt (dem Erleben der Zeit) der gelebten Erfahrung, wie sie an der Kontaktgrenze stattfindet. Die TherapeutIn ist die feine Nadel in diesen Seismographen, die (durch individuelle Resonanzen) die Veränderungen der ästhetischen Werte einer Beziehung im Hier und Jetzt aufzeichnen, und keine individuellen Parameter. Die TherapeutIn prüft diese Veränderungen und positioniert sich laufend in Beziehung zu ihnen, in sensorieller und körperlicher Einheit. Auf diese Weise vollzieht die TherapeutIn nicht nur die intrinsische diagnostische Handlung, sondern auch die therapeutische Handlung selbst: Dies bildet die Einheit der diagnostischtherapeutischen Handlung (Perls / Hefferline / Goodman 1985; Bloom 2003). Wenn sie die Unterbrechung der Intentionalität wahrnimmt, positioniert sich die TherapeutIn in der Beziehung neu, leitet und heilt sie, Moment für Moment.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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