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3.7.1. Die drei Funktionen des Selbst

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Nachdem sie das Selbst als komplexes System von Kontakten definiert hatten, die für die Anpassung in einem schwierigen Feld notwendig sind, beschrieben die Autoren des Standardwerkes zur Gestalttherapie bestimmte »besondere Strukturen«, die das Selbst für »spezielle Zwecke« hervorbringt (ebd., 218). Diese Strukturen sind Gruppen von Erfahrungen, um die herum bestimmte Aspekte des Selbst organisiert sind. Die drei Autoren benutzen in ihrem Buch zwar psychoanalytische Begriffe (vor allem das Es und das Ich), die sie von dem damals gebräuchlichen psychologischen Vokabular »entliehen« haben, wie sie selbst sagen. Allerdings beschreiben sie sie in erlebnisorientiertem und phänomenologischem Sinn als Fähigkeiten der integrierten Funktionsweise in dem ganzheitlichen Kontext der Erfahrung, aus dem das Selbst besteht.

Dieser epistemologische Widerspruch sorgt für Verwirrung. Anstatt diese Begriffe durch andere, erlebnisorientierte zu ersetzen, versucht man in der aktuellen Entwicklung der gestalttherapeutischen Theorie, diese Teilstrukturen des Selbsterlebens zugunsten anderer Prozesse wie der Ko-Kreation der Kontaktgrenze in den Hintergrund zu stellen. Es, Ich und Persönlichkeit sind nur drei von vielen möglichen Erfahrungsstrukturen: Sie werden als Beispiele für die Fähigkeit eines Menschen verstanden, mit der Welt in Verbindung zu treten: das Es als sensomotorischer, wie »unter der Haut« wahrgenommener Hintergrund der Erfahrung, die Persönlichkeit als Assimilation früherer Kontakte und das Ich als »Motor«, der sich auf der Grundlage der beiden anderen Funktionen bewegt und auswählt, womit er sich identifizieren will und was ihm fremd ist. Wir werden uns diese drei Teilstrukturen des Selbst nun genauer ansehen.

Die Es-Funktion des Selbst

Die Es-Funktion wird als die Fähigkeit des Organismus definiert, mit der Umwelt in Kontakt zu treten: a) mithilfe des sensomotorischen Hintergrunds assimilierter Kontakte, b) durch physiologische Bedürfnisse und c) durch körperliche Erfahrungen und Empfindungen, die wahrgenommen werden, als geschähen sie »innerhalb der eigenen Haut« (inklusive unerledigter vergangener Situationen) (Lichtenberg/Lobb 2005, 28; vgl. Perls / Hefferline / Goodman 2006, 247).

a) Der Hintergrund der sensomotorischen Erfahrung von assimilierten Kontakten. Im Standardwerk von Perls, Hefferline und Goodman, Gestalttherapie, finden sich unterschiedliche Definitionen von »Kontakt«, die sich bisweilen zu widersprechen scheinen. So wird Kontakt einerseits als fortwährende Aktivität des Selbst beschrieben (das Selbst, das in fortwährendem Kontakt ist), andererseits aber auch als signifikante Erfahrung, die die vorangegangene Anpassung des Selbst verändern kann. Was ist Kontakt also? Ist es Kontakt (physischer Kontakt zwischen Teilen des Körpers und dem Stuhl), wenn man auf einem Stuhl sitzt? Oder ist es Kontakt, wenn man zum ersten Mal mit Leib und Seele mit jemandem Sex hat, den man sehr liebt? Gestalttherapie nennt zwei Arten von Kontakt: assimilierten Kontakt und den Kontakt, der etwas Neues bringt und zu Wachstum führt.

Normalerweise müssen wir nicht bei jedem Hinsetzen überprüfen, ob der Stuhl stabil genug ist, uns zu tragen, oder alle propriozeptiven und motorischen Abläufe Schritt für Schritt nachvollziehen, die uns das Sitzenbleiben ermöglichen. Nur ein dekonstruierendes Ereignis wie ein wackelnder Stuhl oder einer, der unter uns zusammenbricht, würde das Selbst an der Kontaktgrenze zwischen unserem Körper und dem Stuhl reaktivieren. Auf einem Stuhl zu sitzen schließt die Erfahrung des Hintergrundes mit ein (die wir uns nicht als Figur ins Gedächtnis rufen müssen), die wir uns in früheren Kontakten angeeignet haben. Auf einem Stuhl zu sitzen wird selbstverständlich.

Zu Beginn seines Lebens muss der Mensch alles lernen. Alles ist neu und muss ausprobiert, dekonstruiert und assimiliert werden. Das neugeborene Kind erlebt eine Verbindung zwischen seinem Weinen und dem Auftauchen der Mutter (oder ihrem Wegbleiben) und lernt, sein inneres Zeitgefühl zu steuern. Wenn die Mutter nicht reagiert, erlebt es möglicherweise Angst vor dem Verlassen-Werden. Der sensomotorische Hintergrund assimilierter Kontakte gehört dann zu dieser spezifischen Lernerfahrung, in der sich die Komplexität der psycho-physischen Entwicklung (Piaget 1950) und der körperlichen Erfahrung (Kepner 1993) spiegelt.

b) Physiologische Bedürfnisse. Im Kontext der gestalttherapeutischen Theorie, bei der das Selbst eine Funktion des Feldes ist, verursachen physiologische Bedürfnisse die vom Organismus ausgehende Erregung des Selbst. Das Selbst kann durch innere Erregung (ausgelöst durch das Auftreten eines physiologischen Bedürfnisses oder Ereignisses) oder durch einen äußeren Einfluss (durch ein Ereignis in der Umwelt) aktiviert werden. Diese Unterscheidung existiert jedoch nur in unserer Vorstellung, da das Selbst eine Funktion des Feldes ist. Es ist ein integrierter Prozess, bei dem ein Element in der Umwelt ein physiologisches Bedürfnis ebenso hervorrufen kann wie ein physiologisches Bedürfnis die Wahrnehmung eines Teils des Feldes anregen kann, der zuvor nicht wahrgenommen wurde. So kann uns bei einem Spaziergang in der sengenden Sonne der Anblick eines Brunnens an Durst erinnern, so wie der Durst uns animiert, in unserer Umwelt nach Wasser zu suchen. Diese wahrnehmungs- und beziehungsorientierten Dynamiken wurden ursprünglich von gestaltpsychologischen Theoretikern dargestellt (Köhler 1940; Koffka 1935).

c) Körperliche Erfahrung und was erlebt wird, als sei es »innerhalb der eigenen Haut«. Dieser dritte Aspekt der Es-Funktion führt die beiden bereits erläuterten Aspekte zusammen, indem er einer Erfahrung grundlegenden Vertrauens (oder Mangels an Vertrauen) beim In-Kontakt-Treten mit der Umwelt das Gefühl der Integration hinzufügt. Er spiegelt die zarte Beziehung zwischen Selbstunterstützung und der Unterstützung durch die Umwelt, zwischen einem Gefühl der inneren Fülle und dem Gefühl, dass man der Umwelt vertrauen kann.

Diese beiden Erfahrungen sind miteinander verbunden: Je mehr man erlebt, dass man der Umwelt vertrauen kann, desto mehr erlebt man innere Fülle als ein Nachlassen von Angst oder von physiologischen Wünschen. Umgekehrt ist es leichter möglich und auch zweckmäßig, sich der Welt anzuvertrauen, je stärker das innere Gefühl der Sicherheit ist. Laura Perls widmete dieser Verbindung in ihrer klinischen Arbeit große Aufmerksamkeit. Sie beobachtete Haltung und Gang ihrer PatientInnen genau und leitete daraus Anpassungen in ihren Interventionen ab. Dabei legte sie vor allem Wert auf das Gefühl der Selbstunterstützung, das aus der Beziehung mit der Unterstützung der Umwelt entstand (L. Perls 1990). Isadore From wiederum stellte eine Verbindung zwischen psychotischem Erleben und einer starken Angst her, die das In-Kontakt-Treten durch dieses Erleben des Selbst charakterisiert. Psychotiker erleben das, was sie als »innerhalb der eigenen Haut« wahrnehmen, nicht nur als äußerst beängstigend, sondern vor allem als etwas, das ununterscheidbar ist oder vermischt mit dem, was »außerhalb der eigenen Haut« ist. Bei einer psychotischen Störung sehen wir also den Mangel an Wahrnehmung der Grenze zwischen Innen und Außen (siehe Spagnuolo Lobb 2003a).

Die Persönlichkeits-Funktion

Die Persönlichkeits-Funktion drückt die Fähigkeit des Selbst aus, auf Basis dessen, was man geworden ist, mit der Umwelt in Kontakt zu treten. »Die Persönlichkeit ist das System der Haltungen, die man in zwischenmenschlichen Beziehungen einnimmt. […] Aber die Persönlichkeit ist im Wesentlichen nur ein verbaler Ausdruck des Selbst.« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 223 f.) Die Persönlichkeits-Funktion wird also durch die Antwort des Subjektes auf die Frage »Wer bin ich?« ausgedrückt. Es ist der Bezugsrahmen für die Grundeinstellungen des Individuums (Bloom 1997).

Im Widerspruch zu dem, was man aus Parallelen mit psychodynamischen Theorien schließen könnte, ist die Persönlichkeits-Funktion kein normativer Aspekt der psychischen Struktur. Die Persönlichkeits-Funktion drückt die Fähigkeit aus, auf der Grundlage einer bestimmten Definition des Selbst mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Wenn ich mich zum Beispiel für schüchtern und verklemmt halte, gehe ich ganz anders in Kontakt mit meiner Umwelt als jemand, der sich selbst als draufgängerisch und extrovertiert definiert. Dieses Konzept erinnert an G. H. Meads (1934) empirisches »Mich«, dessen Theorie Paul Goodman beeinflusst hat (siehe Kitzler 2007). Die Persönlichkeits-Funktion beeinflusst, wie wir unsere sozialen Rollen gestalten (zum Beispiel Student, Eltern usw. werden), wie wir vorhergehende Kontakte assimilieren und uns kreativ an die durch Wachstum auferlegten Veränderungen anpassen.

Einer der grundlegenden Aspekte, auf die eine TherapeutIn achten muss, ist also die Funktionsweise des Selbst auf der Ebene der Persönlichkeits-Funktion. Zum Beispiel verwendet ein achtjähriger Junge spontan eine seinem Alter angemessene Sprache. Wenn er sich in der Sprache der Erwachsenen ausdrückt, kann dies als Merkmal einer gestörten Persönlichkeits-Funktion interpretiert werden (da es eine Modalität ist, mit der Umwelt in Kontakt zu treten). Dasselbe kann man von einer Vierzigjährigen sagen, die wie eine Sechzehnjährige spricht, von einer Mutter, die sich ihren Kindern gegenüber wie eine Freundin oder Schwester verhält, von einer StudentIn, die sich wie eine ProfessorIn benimmt oder von einer PatientIn, die sich selbst als jemand definiert, der keine Hilfe braucht.

Die Ich-Funktion

Die Ich-Funktion drückt eine andere Fähigkeit des Selbst-in-Kontakt aus: die Fähigkeit, sich mit Teilen des Felds zu identifizieren oder sich von ihnen zu entfremden (Das bin ich, das bin ich nicht). Die Macht zu wünschen und zu entscheiden charakterisiert die Einzigartigkeit individueller Entscheidungen. Es ist der Wille als Kraft, im Sinne von Otto Ranks Denken (1941, 50), die autonom organisiert ist. Sie ist weder ein biologischer Impuls noch ein sozialer Trieb, sondern stellt vielmehr den kreativen Ausdruck der ganzen Person dar (Müller 1991, 45).

Die Ich-Funktion greift also dadurch in den Prozess der kreativen Anpassung ein, dass sie Entscheidungen trifft, sich mit manchen Teilen des Felds identifiziert und sich von anderen Teilen entfremdet. Das Ich ist die Funktion des Selbst, die dem Individuum das Gefühl vermittelt, aktiv und absichtsvoll zu sein. Diese Intentionalität wird vom Selbst spontan ausgeübt, das sie mit Stärke, Bewusstheit, Erregung und der Fähigkeit entwickelt, neue Gestalten zu schaffen. »Es ist absichtsvoll, im aktiven Modus, sensorisch wach und motorisch aggressiv und sich seiner Selbst unabhängig von der Situation bewusst« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 220). Gemäß dem Werk Gestalttherapie sind es genau diese charakteristischen Merkmale der Ich-Funktion, die uns dazu bringen, dass wir das Ich als Agens des Erlebens betrachten. Haben wir diese Abstraktion erst einmal vorgenommen, denken wir uns die Umwelt nicht länger als einen Pol von Erfahrung, sondern als eine weit entfernte Außenwelt, sodass wir Ich und Umwelt leider nicht als Teile ein und desselben Ereignisses sehen. Die Ich-Funktion arbeitet auf der Grundlage der Information, die von allen anderen Strukturen des Selbst geliefert wird. Die Fähigkeit, spontan zu entscheiden, wird in Übereinstimmung mit der Fähigkeit ausgeübt, mit der Umwelt in Kontakt zu treten, und zwar durch das, was als »innerhalb der Haut« wahrgenommen wird (Es-Funktion), und was durch die Antwort auf die Frage »Wer bin ich?« definiert wird (Persönlichkeits-Funktion). Es ist die Fähigkeit zu introjizieren, zu projizieren, zu retroflektieren und vollständig in Kontakt zu treten.

An dieser Stelle ist ein didaktisches Beispiel hilfreich. Ein Gefühl, normalerweise als einheitliches Phänomen wahrgenommen, lässt sich gemäß den verschiedenen Funktionen des Selbst beschreiben. Der Es-Funktion entsprechend werden die Muskeln beim Erleben eines Gefühls als entspannt oder angespannt, die Atmung als frei und offen oder eingeschränkt wahrgenommen. Die Persönlichkeits-Funktion definiert das Gefühl als Teil des Selbst (»Ich gehöre zu den Menschen, die solche Gefühle haben«). Die Ich-Funktion ermöglicht das Entstehen von Erregung im Zusammenhang mit dem Gefühl, zum Beispiel durch Introjektion (das Erleben wird als »Ich bin bewegt, das ist in Ordnung für mich« definiert), durch Projektion (man bemerkt, dass auch in der Umwelt Erregung existiert, indem man z. B. sagt »Ich kann sehen, dass auch andere Menschen bewegt sind«), oder durch Retroflexion (man vermeidet vollständigen Kontakt mit der Umwelt, indem man sich zurückzieht oder die Energie auf das Selbst richtet und z. B. sagt: »Ich möchte alleine damit fertig werden«).

Die Begründer der Gestalttherapie beschreiben diese Ich-Funktionen einerseits als Fähigkeit, in Kontakt zu treten, andererseits als Widerstand dagegen (Verlust der Ich-Funktionen). Dieser doppelte Gebrauch der oben angeführten Begriffe zeigt eine grundlegende Übereinstimmung mit den epistemologischen Prinzipien der Gestalttherapie, die gesunde und pathologische Prozesse nicht voneinander trennt. Die Verwendung desselben Begriffs für Normalität und Psychopathologie mag jedoch zu Verwirrungen führen, wenn man sich nicht eingehend mit den epistemologischen Prinzipien von Prozess und Phänomenologie der gestalttherapeutischen Theorie des Selbst beschäftigt hat.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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