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2. Der/die »Dritte« als Komponente von Beziehung

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Um psychopathologisches Erleben zu verstehen, reicht es nicht, allein das Individuum oder die duale Beziehung als Bezugsgröße zu betrachten. Eine Beziehung besteht nie nur aus zwei Menschen – es spielen immer auch externe Einflüsse hinein (Spagnuolo Lobb / Salonia 1986; Fivaz-Depeursinge / Corboz-Warnery 1999; Irigaray 2002; Salonia 2005b; Spagnuolo-Lobb 2008b). Unsere Feldtheorie impliziert bereits das Vorhandensein eines Hintergrunds, der der Figur Bedeutung verleiht: In verschiedenen Situationen können unterschiedliche Figuren aus dem Hintergrund hervortreten, die die jeweilige Beziehung verankern und ihr Bedeutung verleihen. Wir können diese Figuren, deren Funktion darin besteht, die Beziehung im größeren Feld zu verankern, als Dritte bezeichnen.

So fungiert die SupervisorIn in der klinischen Arbeit als wichtige Dritte. In einer Supervisionsgruppe berichtet uns eine Kollegin, wie schwierig ihre Arbeit mit einem Patienten mit einem narzisstischen Leiden ist: Sie fühlt sich oft unfähig und erniedrigt, sie ist »nie genug für ihn«. In solchen Momenten hilft es ihr, an die Unterstützung durch die SupervisorIn und die Gruppe zu denken. Dadurch kann sie sich erden und sich in Erinnerung rufen, dass ihre Gefühle zum Feld gehören und keine »absoluten Definitionen« ihrer selbst sind. Auf diese Weise kann sie atmen und beim Patienten bleiben.

Hier kommt der Gruppe die Rolle des Dritten zu: Sie verleiht der therapeutischen Beziehung Hintergrund und Bedeutung. Ein anderer Kollege beschreibt seine Gefühle zu seiner Patientin: Er wollte schon seit mindestens zwei Monaten über diese Therapie sprechen, doch er schämt sich wegen dieser Beziehung. Er glaubt, dass er dabei ist, sich in seine Patientin zu verlieben. Er ist sich der Risiken bewusst und genießt diese Gefühle gleichzeitig: Er möchte ihr helfen und sie retten und irgendwie ist er der Meinung, dass die Gruppe ihre Bedürfnisse nicht richtig versteht. Diese Eröffnung fördert viele wichtige Aspekte über die Patientin, den Therapeuten und die Gruppe zutage und bietet einen guten und soliden Hintergrund zur Fortsetzung der Therapie. Einer dieser Aspekte ist das Bewusstsein, dass seine Liebe zu der Patientin ein gesundes und großzügiges Gefühl ist, das ihre Beziehung unterstützen kann. Er muss nur die Gruppe mit im therapeutischen Raum behalten. Er muss dies nicht bewusst tun, es reicht, dass er seine Patientin mit ins größere Feld hineingebracht hat, dass er Unterstützung und Anerkennung für seine Gefühle und ihre Bedürfnisse erhalten hat und dass er den Kontakt zwischen der Therapie und der Gruppe hält. Die Gruppe dient als Dritte, die »Verrücktheiten« in der dualen Beziehung verhindert. Falls der Kollege während oder nach der Sitzung Schwierigkeiten hat, kann er sich fragen: »Was würden die SupervisorIn oder die Gruppe sagen, wenn sie jetzt hier wären?« Eine solche Frage kann ihn in dieser Phase der Therapie unterstützen.

Ein weiteres Beispiel zur Veranschaulichung: Eine Familie, in der sexueller Missbrauch stattfindet, wird vom Sozialamt zur Therapie geschickt, weil die kleine Tochter an schweren Angstsymptomen leidet. Zwei TherapeutInnen beginnen, mit der Familie zu arbeiten. In der Supervision berichten sie, dass während der Sitzungen nichts aufs Tapet kommt, was nach klassischen Diagnosekriterien als »pathologisch« gelten würde. Gleichzeitig vermittelt ihnen die bloße Anwesenheit in dieser Familie – mit der sie als Dritte in Kontakt treten – ein schmutziges Gefühl, ein fast unerträgliches Gefühl, Teil eins Spinnennetzes zu sein. Sie fungieren als Dritte, die das Leiden der Beziehungen in dieser Familie spüren können.

Psychopathologie ist also nicht immer eine Frage der subjektiven Gefühle der unmittelbar Betroffenen. Wir sollten uns immer die Frage stellen: »Was würde ein(e) Dritte(r) an der Kontaktgrenze wahrnehmen?« Ein Mensch, der an der Kontaktgrenze einer leidenden Beziehung steht, würde Schmerz oder Verzweiflung fühlen. Vom allgemeinen und vom gesellschaftlichen Standpunkt betrachtet, ist immer ein(e) Dritte(r) anwesend (Bruni 2007; Cavarero 2007; Žižek 2002): Die Gesellschaft, die Menschen rund um die Beziehung, die Menschheit als Ganzes. Welche Auswirkungen hat die Beziehung auf sie? Was könnten sie verlieren? Und wie und in welchem Ausmaß trägt das, was geschieht, dazu bei, dass eine gewisse Form der »Blindheit« in der Gesellschaft und bei den Menschen rund um die Beziehung eintritt?

So gesehen fallen Folter, Gleichgültigkeit gegenüber eigenen Schmerzen oder den Schmerzen anderer, Herrschaft über andere und das Nicht-Zuhören in den Bereich der Psychopathologie, genauso wie Angst und Depression. In all diesen Fällen leiden Beziehungen. Diese triadische Perspektive ist wesentlich bei der Wahrnehmung von Verzweiflung und der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, Unterstützung zu bieten. Die Anwesenheit des/der »Dritten« (Lévinas), des/der »anderen Anderen« (Derrida) in Beziehungen ist auch eine ethische Frage, die die Frage nach der grundsätzlichen Bedeutung menschlichen Lebens berührt. Dies war im letzten Jahrhundert und ist noch heute ein bedeutendes philosophisches Thema,8 das auch andere Disziplinen wie die Soziologie, die Anthropologie, die Politik und die Psychologie berührt und einen neuen Zugang zu ihnen eröffnet.

Dort, wo psychopathologisches Leiden am schlimmsten ist – wenn es um Fragmentierung und die Nicht-Grenze zwischen dem Individuum und der Welt geht, wie es bei einer Psychose der Fall ist –, ist es wichtig, dass die TherapeutIn die Beschaffenheit des/ der Dritten unterstützt, indem sie selbst als Hintergrund fungiert. So erzählt mir zum Beispiel ein Patient von seinem Wahn: Er wird von einem Geheimdienst ausspioniert, der heimlich und unablässig überprüft, ob er für eine Zusammenarbeit mit ihm geeignet ist. Die TherapeutIn kann mit ihm nicht über diese unstrittige Figur sprechen: Daraus würde sich sofort ein Kampf zwischen seiner Definition von Realität und jener der TherapeutIn ergeben und implizit seine Verrücktheit und die geistige Gesundheit der TherapeutIn bestätigen.

Die TherapeutIn muss als Hintergrund fungieren, vor dem sich diese Figur herausbilden kann, muss abwarten und nach der Bedeutung suchen, die dieses Leiden transportiert. Sie ist der Hintergrund – in dem Sinne, dass sie die Grundbedingungen der Situation aufrechterhält, die in einem psychotischen Feld beinahe verloren gehen: Sie atmet weiter, sitzt weiterhin in ihrem Stuhl, fühlt weiterhin die Energie fließen, nimmt den Boden und den Raum zwischen ihnen wahr und hofft weiterhin auf das Auftauchen einer gemeinsamen Bedeutung. Sie spürt den Hintergrund und verliert ihn nicht und schafft so den Hintergrund für den Patienten und die Beziehung. Sie muss darauf vertrauen, dass auch in einem solchen Zustand eine Kontaktintentionalität existiert, die sich herausbilden will. Dadurch übernimmt sie in der Beziehung die Rolle einer Dritten, einer Umgebung, die die Beziehung aufnehmen kann, und für die Beziehung die grundlegenden existenziellen Raum-Zeit-Koordinaten schafft. In dieser Umgebung können archaische und unterbrochene Intentionalitäten wieder in Erscheinung treten und einen Weg finden, einen gesünderen Kontakt zum Therapeuten / zur Therapeutin aufzubauen.

Manchmal erscheint alles so erstarrt, dass sogar das Atmen wie eine übermächtige Aufgabe erscheint. Es ist wichtig, eine Atmosphäre zu schaffen, die die Entwicklung archaischer – verrückter und bruchstückhafter – Beziehungen fördert (die den Punkt der Ich/Du-Trennung meist nicht erreicht haben). Die TherapeutIn muss verfügbar sein, um dieses Feld zu fühlen, zu ertragen, Hintergrund zu schaffen und sich in gewisser Weise von diesem Feld anstecken lassen, ohne dem Wunsch nachzugeben, ihre Definition von Realität zu bestätigen (Benedetti 1992; Stolorow et al. 1999). In dieser Phase ist die Beziehung voll von seelischem Schmerz und Projektionen: Die TherapeutIn muss in dieser Atmosphäre verweilen, muss den Hintergrund für dieses Phänomen bilden, ohne sich zu verlieren, und darauf vertrauen, dass sich der Nebel und die Dunkelheit durch ihre Anwesenheit langsam lichten. In diesem Prozess wird sich die PatientIn definieren und in der therapeutischen Beziehung verwurzeln.

Erst in einem späteren Stadium ist eine Veränderung der Therapie möglich, sodass die therapeutische Beziehung im Hier und Jetzt Figur und Fokus der Arbeit werden kann. In diesem Moment kann die PatientIn beginnen, die TherapeutIn als Andere wahrzunehmen. Und erst jetzt kann die TherapeutIn die Beziehung auf einem/r »externen« Dritten ruhen lassen, der/die immer als der Hintergrund, Horizont und Bezugsrahmen da ist. Die TherapeutIn muss nicht länger den Hintergrund für die Beziehung schaffen.

Langsam und unter großen Anstrengungen ist aus diesem Hintergrund ein gemeinsames beständiges Erbe geworden, das bewahrend und begründend ist. Ein wichtiges diagnostisches Element liegt also in dem überwältigenden Bedürfnis nach der Anwesenheit eines/r Dritten als Bezugsrahmen, der verhindert, dass man verrückt wird, und das Sein in einer Welt legitimiert, die man als neu und ohne Sicherheiten wahrnimmt. In einem psychotischen Feld zeigt nicht nur die PatientIn ein immenses Bedürfnis nach Unterstützung, sondern auch die therapeutische Beziehung: Wenn es nicht genügend Unterstützung gibt, ist Konfluenz mit dem Patienten im Widerstand gegen den Kontext nur eines der Risiken. Die TherapeutIn kann sich blindlings verpflichtet fühlen, die PatientIn trotz und wider die Beschränkungen durch das Gesundheitssystem, die Familie und die Gesellschaft zu retten. Das starke Bedürfnis nach einem/r Dritten kann ein Hinweis auf den psychopathologischen Schweregrad sein. Es deutet auf das Ausmaß hin, in dem das Kontakterleben von der Welt, die man gemeinhin als selbstverständlich hinnimmt, entwurzelt ist, entwurzelt von dem Hintergrund durch integrierte Kontakte.

Wir müssen in Erwägung ziehen, dass diese(r) Dritte nicht nur Teil der Therapie, sondern auch der Psychopathologie ist. So kann die Behandlung bei den meisten schweren Störungen schwierig sein, nicht, weil es kein Heilmittel gibt, sondern weil das Umfeld (von der Familie bis hin zur Gesellschaft) grundlegend verändert werden müsste, was oft nicht im Rahmen des Möglichen ist. Manchmal können die Fortschritte der PatientIn zwar zu einer gesünderen Beziehung mit der TherapeutIn führen, ohne dass sich jedoch außerhalb des therapeutischen Settings etwas ändert. Wie schon die Begründer der Gestalttherapie aufgezeigt haben, ist es nicht nur die PatientIn, die sich verändern »muss«, in vielen Fällen ist es die Familie und/oder der soziale Kontext, die »krank« sind.

Eine folie à deux – eine Konfluenz, in der zwei Menschen denselben Wahn und dasselbe psychotische Feld teilen – kann als duale Beziehung verstanden werden, in der der/die Dritte (das Beziehungsnetzwerk, die Arbeitsgruppe, der Kontext) keine Unterstützung bietet. In diesem Fall fehlt die Bewusstheit für die Notwendigkeit einer Verankerung durch eine/n Dritten. Wie bereits erwähnt läuft sogar die therapeutische Beziehung Gefahr, sich in einer konfluenten »gemeinsamen Verrücktheit« zu verlieren. So kann eine Art isolierter Raum-Zeit entstehen, die vom größeren Feld abgeschnitten ist. Die Gründe dafür können in der Beziehungsgeschichte der PatientIn, den Grenzen der TherapeutIn oder den zu schwachen Grenzen des Kontextes (des/r Dritten) liegen. Diese drei Komponenten sind natürlich nicht voneinander zu trennen, es kann jedoch nützlich sein, sie getrennt voneinander zu betrachten, vor allem, um die Bedeutung der dritten Komponente hervorzuheben. Bei den Grenzen des Kontexts müssen wir auch die Tatsache berücksichtigen, dass jede Gesellschaft für sich definiert, was normal ist und was nicht, welche Symptome kuriert und welche Verhaltensweisen verändert werden sollten (siehe Kapitel 10).

Zusammenfassend ist es wichtig festzuhalten, dass die Psychopathologie das Leiden der Kontaktgrenze ist. Dieses mag als subjektiver Schmerz empfunden werden oder auch nicht. Wenn das Subjekt nicht vollständig wahrnimmt, was an der Grenze passiert, verspürt es keinen subjektiven Schmerz. Dennoch kann der/die Andere oder ein(e) Dritte(r) ihn wahrnehmen. Aus klinischer Sicht ist es nicht der Schmerz, der pathologisch ist, sondern vielmehr die Unfähigkeit, ihn auszuhalten und ihn auf individueller, familiärer und sozialer Ebene gänzlich zu empfinden. Um subjektiven Schmerz zu verringern, muss das Zwischen, muss die Grenze leiden. Auf diese Weise wird der Schmerz schwächer wahrgenommen, doch gleichzeitig verringert sich die Bewusstheit. Entwicklungspsychologisch gesehen ist diese Fähigkeit, unerträglichen Schmerz zu verringern, eine kreative Anpassung, die das Individuum, die Familie und die Gesellschaft schützt. Doch nun ist es eben diese Fähigkeit, die das Individuum daran hindert, ganz zu fühlen, zu leben und zu handeln und das Selbst und das Umfeld, mit dem es in Kontakt steht, vollständig zu erleben.

Vollständiges Erleben ist gesundes Erleben, das durch eine gemeinsame Gestaltung an der Kontaktgrenze entsteht. Es zeigt sich in der Erschaffung einer hellen, harmonischen, starken und eleganten Figur (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Bloom 2003). Damit sich eine solche Figur bilden kann, muss das Selbst an der Kontaktgrenze vollständig anwesend sein. Um vollständig anwesend sein zu können, braucht das Selbst ausreichende Unterstützung (Perls L. 1992). Unerträglicher Schmerz führt zur Betäubung und dadurch zur Unfähigkeit, das Selbst oder das Umfeld bzw. den/die Andere(n) wahrzunehmen. Wenn die Unterstützung ausreichend ist, ist das Subjekt anwesend und kann Schmerz spüren. Wenn die Unterstützung nicht ausreichend ist, ist das Subjekt an der Kontaktgrenze auf die eine oder andere Weise abwesend und unbewusst und kann grausam oder selbstzerstörerisch agieren. Das Angebot ausreichender Unterstützung bei Schmerz ist ein Weg, Leid auf sozialer Ebene zu vermeiden und zu heilen. Dies eröffnet uns eine ethische Leitlinie und eine politische Perspektive in unserer Arbeit als PsychotherapeutenInnen.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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