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3.8 Das Erleben von Kontakt – Rückzug aus dem Kontakt

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Die Aufmerksamkeit die dem Prozess in der Gestalttherapie gewidmet wird, führt uns dazu, die Entwicklung des Kontakterlebens zu beobachten und so die zeitliche Dimension in Betracht zu ziehen. Tatsächlich sieht normales gesundes Erleben folgendermaßen aus:

Man ist entspannt, es gibt vieles, womit man sich beschäftigen könnte, alles wird akzeptiert und bleibt ziemlich vage – das Selbst ist eine »schwache Gestalt«. Dann übernimmt ein Interesse die Führung, und die Kräfte werden spontan aktiviert, bestimmte Bilder werden prägnanter, und Bewegungsreaktionen werden ausgelöst. An diesem Punkt werden meist auch bestimmte absichtliche Selektionen und Entscheidungen erforderlich. »[…] Das heißt, daß der gesamten Funktionsweise des Selbst Grenzen auferlegt werden, und dabei vollziehen sich gemäß diesen Grenzen Identifikationen und Entfremdungen. […] Und auf dem Höhepunkt der Erregung wird die Intentionalität schließlich losgelassen, und die Befriedigung ist wiederum spontan.« (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. I, 219).

Das Selbst wird als Kontaktprozess und als Rückzug aus dem Kontakt definiert. Dieser Prozess führt zu einer Ausdehnung des Selbst, bis es die Kontaktgrenze mit der Umwelt erreicht und sich nach der Fülle der Begegnung zurückzieht. Das Kontakterleben wird in Gestalttherapie als eine Entwicklung beschrieben, die in vier Phasen abläuft: Vorkontakt, Kontaktaufnahme, Kontaktvollzug und Nachkontakt. Jede von ihnen betont einen anderen Aspekt der Figur/Hintergrund-Dynamik.

Die Aktivierung des Selbst wird Vorkontakt genannt. Damit ist der Moment gemeint, in dem Erregungen entstehen, die den Figur/Hintergrund-Prozess in Gang setzen. Nehmen wir als Beispiel für die Entwicklung des Selbst das Hungergefühl. Im Vorkontakt wird der Körper als Hintergrund wahrgenommen, während die Erregung (Hungergefühl) die Figur darstellt. In der darauffolgenden Phase, der Kontaktaufnahme, weitet sich das Selbst in Richtung der Kontaktgrenze mit der Umwelt aus. Dabei folgt es der Erregung, durch die es in einer Sub-Phase der Orientierung dazu animiert wird, die Umwelt auf der Suche nach einem Objekt oder einer Reihe an Möglichkeiten zu untersuchen (Nahrung, verschiedene Nahrungsmittel). Das gewünschte Objekt wird nun zur Figur, während sich das ursprüngliche Bedürfnis oder der ursprüngliche Wunsch in den Hintergrund zurückzieht.

In einer zweiten Subphase der Manipulation »manipuliert« das Selbst die Umwelt, indem es bestimmte Möglichkeiten wählt und andere ablehnt (es wählt zum Beispiel herzhafte, heiße, weiche Nahrung, die reich an Proteinen ist). Außerdem wählt es bestimmte Teile der Umwelt aus und überwindet Hindernisse (es sucht z. B. aktiv nach einem Restaurant, einer Bäckerei, einer Gaststätte, wo es die gewählte Nahrung finden kann).

In der dritten Phase, dem Kontaktvollzug, wird der Kontakt als endgültiges Ziel zur Figur, während die Umwelt und der Körper den Hintergrund bilden. Das Selbst ist vollständig an der spontanen Handlung beteiligt, mit der Umwelt in Kontakt zu treten. Die Bewusstheit ist groß, das Selbst ist vollständig an der Kontaktgrenze mit der Umwelt gegenwärtig (die Nahrung wird zerkaut, geschmeckt, genossen) und die Fähigkeit zu wählen ist entspannt, weil es im Moment nichts auszuwählen gibt. In dieser Phase findet der nährende Austausch mit der Umwelt, mit dem Neuen, statt. Er wird, wenn er erst assimiliert ist, zum Wachstum des Organismus beitragen.

In der letzten Phase, dem Nachkontakt, wird das Selbst schwächer. So hat der Organismus die Möglichkeit, das Neue zu verdauen und es weitgehend unbewusst zu assimilieren und in die vorhandene Struktur zu integrieren. Der Prozess der Assimilation verläuft immer unbewusst und unwillkürlich (wie die Verdauung). Er kann soweit bewusst werden, dass diese Bewusstheit eine Störung darstellt. Aus diesem Grund schwindet das Selbst in dieser Phase normalerweise und zieht sich von der Kontaktgrenze zurück.

Das Kontaktsystem des Selbst ist komplex, und das eben erläuterte Beispiel wird dieser Komplexität selbstverständlich nicht gerecht. Diese Kontakte sind fortwährend auf verschiedenen Ebenen aktiv und bilden das aktuelle Erleben des Individuums. Man kann ein Buch lesen (geistiger Kontakt) und dabei in einer Hängematte liegen (selbstverständlicher Kontakt, es sei denn, die Hängematte dreht sich um), den Vögeln beim Singen zuhören (akustischer Kontakt), den Duft der Blumen riechen (olfaktorischer Kontakt) und die Wärme der Sonne genießen (kinästhetischer Kontakt). In diesem komplexen System aus Kontakten ist der Organismus jedoch meist auf einen bestimmten Kontakt fokussiert – nämlich auf den einen, den er wählt und mit dem er sich identifiziert, um zu wachsen. Das kann z. B. das Lesen des Buches sein, wenn das aufkommende Bedürfnis mit geistigem Wachstum zu tun hat, oder das Lauschen des Vogelgesangs, wenn der akustische Kontakt Gefühle und Gedanken hervorruft, die in diesem Moment wichtig sind.

An diesem Punkt müssen wir einräumen, dass die in dem Standardwerk Gestalttherapie (Perls / Hefferline / Goodman 2006) zu beobachtende mangelnde Differenzierung zwischen menschlicher und nicht-menschlicher Umwelt eine wichtige Einschränkung der Theorie des Kontakterlebens darstellt (siehe Robine 2006a). Das Revolutionäre dieser Theorie besteht darin, dass sie Kontakt von der Position der Zwischenheit, der Kontaktgrenze, aus betrachtet. Eine absolut notwendige Entwicklung ist die genaue Beschreibung des Unterschieds zwischen dem Beitrag einer (nicht menschlichen) Umwelt, die nicht reagiert, und dem Beitrag einer (menschlichen) Umwelt, die auf die Kreativität des Individuums mit Kreativität reagiert. Wie Wheeler (2000a) betont, führt diese Homologisierung zu einer Perspektive, die sich auf das Individuum konzentriert, anstatt auf die Handlung des ko-konstruierten Kontakts. Darin besteht heute das »growing edge«, die Grenze der Entwicklung, und die Herausforderung für die Theorie des Kontakterlebens.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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