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3. Gesundes, psychotisches und neurotisches Erleben

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Während wir versuchen, diese drei Dimensionen des menschlichen Erlebens voneinander zu differenzieren, wollen wir Sie daran erinnern, dass wir keine Menschen definieren, sondern eine Art des Erlebens im Hier und Jetzt, in der gegenwärtigen Situation. Diese Art von Erleben – gesund, neurotisch, psychotisch – ist ein Phänomen, das sich an der Kontaktgrenze herausbildet. Es wird also immer gemeinsam erschaffen. Das bedeutet, dass die TherapeutIn während der Sitzung dazu beiträgt, eine dieser Arten des Erlebens zu kreieren. Sie kann auch dazu beitragen, psychotisches Erleben hervortreten zu lassen oder zu festigen. Daher ist es wichtig, sich dieser drei Dimensionen bewusst zu sein, um sie erkennen zu können und zu wissen, wie man mit ihnen umgeht (siehe auch die entsprechenden Kapitel in diesem Buch).

Eine weitere Vorbemerkung: Die Begriffe »gesund«, »psychotisch« und »neurotisch« werden hier nicht als Kategorien angeführt, sondern als Dimensionen. Das bedeutet erstens, dass ein Erleben mehr oder weniger psychotisch, neurotisch oder gesund sein kann – und trotzdem sind es weiterhin drei unterschiedliche Arten von Dimensionen. Zweitens bedeutet dies, dass wir alle das Potenzial haben, diese drei Dimensionen zu erleben: Es gibt eine dynamische Schwelle, die wahrscheinlich von der Situation, den Umständen und den persönlichen Anlagen abhängig ist.

Sehen wir uns nun an, was gesundes Erleben charakterisiert und wie wir es bestimmen können.

Wir können ein paar Elemente identifizieren, die aus gestalttherapeutischer Sicht bei gesundem und normalem Erleben vorhanden sein müssen. Gesundes Erleben ist ein Kontaktprozess mit einem Novum, das als Entwicklungsmöglichkeit im Umfeld vorhanden ist. Dieser Prozess impliziert einen gemeinsamen Akt der Zerstörung, der das Neue integrierbar macht, sowie genügend Zeit für die Integration selbst. Das Ergebnis ist ein Wachsen des Organismus (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Auf die eine oder andere Weise ist jede Situation neu: Gesundes Erleben ist das Zusammentreffen mit der unendlichen Neuheit des Lebens. Es ist per definitionem einzigartig und nährend: einzigartig, weil die Begegnung mit dem Neuen nicht wiederholbar ist (wenn doch, ist es kein Zusammentreffen mit etwas Neuem), und nährend, weil das Ergebnis ein Wachsen des Organismus ist (wenn nicht, dann gab es nicht genügend Nährendes).

Beim neurotischen Erleben ist der Kontakt mit dem Neuen an der Kontaktgrenze gedämpft: Es findet nur ein reduzierter Kontakt mit den Möglichkeiten im Feld statt. Diese Einschränkung manifestiert sich in den sogenannten Kontaktstörungen. Ursprünglich handelte es sich dabei um gesunde Schutzmechanismen des Organismus: Sie waren die beste Möglichkeit, in vergangenen Beziehungen präsent zu bleiben, doch dann wurden sie zu unbewussten Gewohnheiten – fixierten Gestalten –, die die Möglichkeiten beschränken, in der Beziehung präsent zu sein. Das neurotische Erleben ist nicht einzigartig, sondern vielmehr stereotyp, und nicht nährend, da es nicht zu einer vollständigen Begegnung mit dem Neuen kommt, das es zu integrieren gilt.

Um psychotisches Erleben zu verstehen, müssen wir ein weiteres Element des gesunden, normalen Erlebens betrachten. Wir bezeichnen ein Erleben als »normal«, das aus einem gemeinsamen Hintergrund von Zeit, Raum und Grenzen entsteht. In diesem Fall gibt es ein klar umrissenes Subjekt, das eine klar umrissene Welt erlebt, und sie beide sind Teil desselben Gefüges aus Zeit und Raum, einer gemeinsamen Welt, in der Subjekte und Objekte sich trennen und verbinden. Daran ist zunächst nichts Ungewöhnliches, schließlich ist dies die Art und Weise, wie wir normalerweise unsere Erfahrungen machen. Doch genau diese Struktur ist bei psychotischem Erleben9 gestört, bei dem dieser gemeinsame Hintergrund verloren geht: Die Grenzen, die das Subjekt und die Welt trennen und verbinden, sind gestört. Dadurch entsteht ein Mangel an Abgrenzung, der sich z. B. in solchen Feststellungen äußern kann: »Die Leute können meine Gedanken lesen«, »Meine Absichten können ein finanzielles Desaster zur Folge haben« oder »Ich fühle mich, als sei ich weit von den anderen entfernt, ohne Verbindungen und ohne Zukunft«.

Die klar definierte Subjekt/Welt-Struktur als Voraussetzung für ein normales Erleben stellt keinen grundlegenden Zustand des menschlichen Lebens dar, sondern spiegelt vielmehr, wie wir unser Erleben Moment für Moment aufbauen. Unsere Sinne vermitteln uns keine radikale Trennung von Subjekt und Objekt, diese Abgrenzung ist etwas, das wir – prä-kognitiv – in jedem einzelnen Augenblick vornehmen. Die Realität, wie wir sie üblicherweise kennen, ist ein après coup, der sich an der Kontaktgrenze herausbildet. Das Subjekt, das das Hier und Jetzt erlebt, wird permanent durch einen bunten Regenbogen von Abgrenzungen an der Kontaktgrenze erschaffen. Das Selbst ist ein sich herausbildendes Phänomen (Philippson 2001). Bevor das »Ich-Selbst« entsteht, gibt es ein undefiniertes Selbst »der Situation« (Perls / Hefferline / Goodman 1994; Robine 2011). Dank unserer Persönlichkeitsfunktion können wir unsere Stabilität als Subjekte spüren, sie ist jedoch nichts grundsätzlich Gegebenes in unserem Leben.10

Psychotisches Erleben zeichnet sich durch einen Mangel an diesem Hintergrund aus, durch eine Verzerrung von Raum, Zeit und Grenzen, die uns unerträgliche Qualen bereitet: Die Welt geht zu Ende, zumindest so, wie ein Mensch sie zu erfahren gewohnt war. Als Konsequenz entstehen psychotische Phänomene: Die melancholische Depression und schizophrenes Leiden können wohl in einem Kontinuum angesiedelt werden, an dem es an einem Ende keine Verbindung an der Kontaktgrenze gibt und am anderen Ende keine Abgrenzung an der Kontaktgrenze.

Melancholisches oder manisches Erleben tritt ein, wenn das Subjekt von der Situation abgeschnitten ist (entkörpert von Raum/Zeit der Situation und abgetrennt vom Zwischen). Schizophrenes Erleben entsteht, wenn die Grenzen nicht definiert sind und das Außen innen wahrgenommen wird und umgekehrt (Francesetti 2011). In dieser Situation können Wahn und Halluzination einen Eindruck von Realität und Sicherheit erzeugen, der weniger Angst erzeugt als das Gefühl, sich vollkommen orientierungslos in ungewissem Widersinn verlaufen zu haben.

Solche fixierten Schutzmechanismen machen dieses Erleben oft stereotyp. In diesem Zustand kann sich die Kontaktsequenz nicht fortsetzen. Da es keinen Prozess der Abgrenzung gibt, geht die sich daraus ergebende Möglichkeit einer Begegnung verloren. Das Neue kann nicht als Objekt identifiziert werden, es ist wie eine überwältigende Woge, und das nicht definierte Subjekt kann es nicht zerstören, also ist eine Begegnung mit dem Neuen unmöglich und das Neue kann nicht integriert werden.

Bei beiden Arten des Erlebens, dem neurotischem und dem psychotischen, findet keine Begegnung mit dem Neuen statt und sie sind nicht nährend – damit fehlen zwei Grundvoraussetzungen des gesunden und normalen Erlebens.

Wir können diese zwei Arten des Leidens als qualitativ unterschiedlich von gesundem Erleben betrachten, und doch besteht gleichzeitig für jeden Menschen unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit, so zu empfinden. Andererseits wird ein Mensch mit dieser Art von Erleben nie nur darauf reduziert. Wie Minkowski beschreibt, ist es genauso wichtig zu wissen, »wie sehr« eine PatientIn schizophren ist, wie es wichtig ist herauszufinden, wie sehr sie es nicht ist. Auch wenn wir ein Kontinuum zwischen neurotischem und psychotischem Erleben bei einer bestimmten Person wahrnehmen können, und auch rasche Wechsel zwischen ihnen, ist es wichtig, sich immer bewusst zu sein, dass es zwei qualitativ unterschiedliche Arten von Erleben sind.

Wir könnten auch sagen, dass das Erleben eines Menschen immer so gesund ist wie seine Fähigkeit, an der Kontaktgrenze präsent und bewusst zu sein, und dass neurotisches und psychotisches Erleben zwei unterschiedliche Möglichkeiten der Abwesenheit an der Kontaktgrenze darstellen. Diese Überlegung führt uns zur Frage der Bewertung.

Tatsächlich ist es eines der revolutionären Konzepte der Gestalttherapie, dass sie ein inhärentes Kriterium zur Bewertung des Erlebens etabliert hat. Um herauszufinden, ob das Erleben pathologisch ist oder nicht, benötigen wir kein externes Kriterium, mit dem wir vergleichen, was im Kontakt passiert: Gesundes Erleben bedeutet eine gute Gestalt, die über Eleganz, Stärke, Harmonie, Rhythmus, Flexibilität und Intensität usw. verfügt. Dies ist ein ästhetisches11 Kriterium, da es implizites Wissen ist, das uns unmittelbar durch unsere Sinne vermittelt wird: Wir können direkt fühlen, wie gut die Gestaltung ist, der Prozess, in dem sich die Figur bildet. Anwesenheit und Ästhetik an der Kontaktgrenze sind dasselbe Phänomen: vollständiges Erleben ist ästhetisch.

Eine ästhetische Bewertung ist nicht kognitiv: Sie ist implizites Wissen, da sie präverbal und prä-kognitiv ist (D’Angelo 2011; Desideri 2011). Kontaktstörungen im Hier und Jetzt nehmen wir als Verzerrungen dieser Eigenschaften wahr: das Leiden unseres gemeinsam geschaffenen Erlebens, die Begrenzungen unseres gegenwärtigen Kontaktes, das Maß unserer Abwesenheit. Auf diesem ästhetischen Kriterium basiert der inhärente diagnostische Prozess (Bloom 2003; Francesetti / Gecele 2009; siehe auch Kapitel 3 zur Diagnose). Wenn wir in einem psychotischen Feld sind, ist ein bestimmter Aspekt, den wir wahrnehmen, die Notwendigkeit eines/r Dritten – oft als Angst – wie oben beschrieben. Auf diese Weise fühlt die TherapeutIn den unerträglichen Mangel an Hintergrund im Feld. Auch hier handelt es sich um eine inhärente Bewertung, die an der Kontaktgrenze mit den Sinnen wahrgenommen wird.

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