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3.5. Wie eine extrinsische Diagnose entsteht

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Die TherapeutIn hat die Fähigkeit, im Laufe des therapeutischen Prozesses ihren Fokus zu verlagern. In einem Moment konzentriert sie sich auf die Beziehung mit der PatientIn und arbeitet auf einen vollständigen Kontakt hin. Dann kann sie den Fokus auf den »Dritten« verlagern (in diesem Fall eine Beschreibung der Bedeutung der Situation) und zielt nun auf Orientierung und Verstehen ab. Selbst bei der Diagnosestellung kann die TherapeutIn nicht außerhalb der Beziehung zu der PatientIn sein. Wenn sie jedoch eine extrinsische Diagnose stellt, ist es ihre Intention, sich vorübergehend zurückzuziehen, um sich zu orientieren.12 Die TherapeutIn nimmt sich vorübergehend und bewusst Zeit, damit sich ihre Achtsamkeit organisieren kann und sie deren Bedeutung benennen kann.13 Auf diese Weise stellt sie eine extrinsische Diagnose: Sie zeichnet eine Landkarte vom Gebiet der klinischen Situation.14

Die PatientIn und die TherapeutIn durchwandern das komplexe Gebiet der klinischen Situation nicht alleine. Da ist auch noch ein drittes Element: die Landkarte, die verfügbar ist, wenn sie zur Orientierung gebraucht wird, und die dafür sorgt, dass sich TherapeutIn und PatientIn nicht im Kreis drehen. Die Landkarte entsteht unterwegs. Die TherapeutIn markiert viele verschiedene Zeichen und Symbole auf der Landkarte. Sie stammen aus zwei Quellen: aus der Beobachtung der PatientIn und ihrem Kontext und aus der Achtsamkeit der TherapeutIn.

Phänomenologische Beobachtung liefert Informationen über die PatientIn: ihr Aussehen, ihre körperliche Struktur, ihr Ausdruck, wie sie sich kleidet, wie sie spricht usw. Weitere Informationen liefern die Anamnesedaten, entweder von der PatientIn selbst oder aus anderen Quellen (medizinische Berichte von der HausärztIn, von der PsychiaterIn oder von Verwandten der PatientIn). Die TherapeutIn erfährt vieles über die Familie der PatientIn, über die Geschichte ähnlicher Probleme bei ihren Verwandten, über die Qualität der Beziehungen innerhalb der Familie, über die frühere und aktuelle soziale Situation der PatientIn, über bestehende Beziehungen, über die Entwicklung ihres Leidens, über Behandlungen, denen sie sich bereits unterzogen hat usw. All diese Daten stellen eine der Quellen dar, mit deren Hilfe eine Diagnose als eine Arbeitshypothese formuliert wird. GestalttherapeutInnen sollten über genügend klinische Erfahrung verfügen, um die phänomenologische Beobachtung bewerten und Anzeichen eines schweren Leidens bei der PatientIn erkennen zu können (depressiv, psychotisch, abhängig usw.).

TherapeutIn und PatientIn tauschen mehr aus als nur Informationen. Sie reagieren aufeinander und wiederholen weitgehend ihre gewohnten Muster des In-Beziehung-Tretens. Dabei handelt es sich um eine notwendige Phase im therapeutischen Prozess, für die sich die TherapeutIn nicht zu kritisieren braucht. Im Gegenteil: Sie erlebt persönlich, wie das Beziehungsfeld der PatientIn üblicherweise organisiert ist und wie es in ihrer Anwesenheit erneut durchgespielt wird. Alles, was die TherapeutIn erfährt und was sie tut, ist eine Funktion des Feldes und kann als diagnostische Information verwertet werden. Die TherapeutIn beobachtet interessiert, was ihr im Kontakt mit der Patientin passiert, und nutzt ihre Achtsamkeit (eigene Gefühle, Gedanken, körperliche Wahrnehmungen und Impulse im Beisein der PatientIn) als Informationsquelle.

Die TherapeutIn befindet sich ununterbrochen in Beziehung mit der PatientIn, doch der Fokus ihrer Arbeit verändert sich. Sie konzentriert sich entweder auf das In-Beziehung-Sein und lässt sich vom intrinsischen Diagnoseprozess leiten (siehe unten in diesem Kapitel). Oder sie fokussiert sich auf den/die Dritte(n), eine extrinsische Diagnose, einen Supervisor usw. (siehe auch das Kapitel über Psychopathologie).15 Wenn sie sich auf den/die Dritte(n) konzentriert, nutzt die TherapeutIn all die Informationen, die sie einerseits aus der Beobachtung der PatientIn und ihres Kontextes und andererseits aus ihrer eigenen Achtsamkeit abgeleitet hat. Sie wartet ab, bis sich die Informationen zu einem bedeutungsvollen großen Ganzen organisieren und gibt ihm einen Namen. Auf diese Weise stellt sie eine extrinsische Diagnose, die ihr hilft, aus den sich wiederholenden fixen Mustern der Feldorganisation auszusteigen und Wege zu finden, einen gesunden Kontakt zu unterstützen. Auf diese Weise wird die Diagnose zu einer therapeutischen Chance (Baalen 1999).

Paul ist ein 50-jähriger Mann mit einer langen Geschichte psychiatrischer und psychotherapeutischer Behandlung. Er befindet sich in einer Langzeittherapie und nimmt Antidepressiva und Anxiolytika. Er kommt nun zu einer Sitzung und berichtet, dass sich sein Zustand deutlich verschlechtert habe, es gehe ihm sehr schlecht. Er hat das Gefühl, dass ihm alles unwichtig ist, er fühlt nur eine große Leere, und auch Suizidgedanken tauchen auf. Mit ihm erlebt der Therapeut Schwere, Hilflosigkeit und eine Art von Irritation, ein Gefühl wie »Oh nein, es ist wieder da!« Als der Therapeut sich seines Erlebens bewusst wird, sieht er, dass es ihm wertvolle Informationen liefert. Ja, er hat diesen Zustand mit dem Patienten schon einige Male erlebt. Das letzte Mal war vor ungefähr einem Jahr. In diesem Moment sammelt der Therapeut die Information, die ihm seine gegenwärtige Achtsamkeit, seine lange Erfahrung mit dem Patienten und seine aktuelle Beobachtung des Patienten liefern. Eine psychiatrische Kategorie einer rezidivierenden, saisonal bedingten Depression kommt ihm in den Sinn. Er überlegt, was er darüber weiß, und wägt ab, wie relevant dieses Wissen für die aktuelle Situation mit dem Patienten ist. Er erinnert sich, was ihm in ähnlichen Situationen in der Vergangenheit geholfen hat: Ansprüche und Erwartungen an sich selbst und den Patienten auf ein Minimum herunterzuschrauben, die Situation mit einem Psychiaterkollegen zu diskutieren; und vor allem dranzubleiben, weiter in Kontakt mit dem Patienten zu sein. Eine depressive Phase hört auch irgendwann wieder auf!

Eine extrinsische Diagnose hat ihm hier als Anker gedient, als »Dritter« in seiner Beziehung zu dem Patienten. Sie hat dem Therapeuten geholfen, ruhig zu werden und geerdet und konzentriert zu bleiben. Er kann wieder voll anwesend und für einen guten Kontakt mit dem Patienten verfügbar sein.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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