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3.2. Geschichte und Kontext der psychiatrischen Diagnose

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Diagnose kommt vom Griechischen dia-gnosi, was »wissen durch« bedeutet (Cortelazzo / Zolli 1983). Der Begriff selbst deutet also schon an, dass es nicht möglich ist, auf Diagnosen zu verzichten, zumindest im weitesten Sinne. Im letzten Jahrhundert haben uns die Philosophie der Wissenschaft und die Hermeneutik gelehrt, dass es kein Wissen geben kann, das frei von allen Filtern und allem Vorwissen ist. Wenn wir nur durch wissen können und es keine gnosis ohne dia gibt, stellt sich die Frage, auf welche dia (auf welche Vorurteile, auf welche Annahmen) wir uns stützen sollten (Salonia 1992). In unserer Gesellschaft ist das medizinische Modell die einflussreichste dia für die Diagnose.

Die moderne Psychiatrie wurde aus dem Versuch heraus geboren, psychopathologische Phänomene zu benennen und zu klassifizieren. Durch seine klinische Unterscheidung zwischen Dementia Praecox und manisch-depressiver Psychose (Kraepelin 1903) hat Kraepelin in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen großen Fortschritt für die Psychiatrie seiner Zeit erzielt. Er glaubte, »natürliche Krankheitseinheiten« bestimmen zu können, wie etwa eine Lungenentzündung oder einen Herzinfarkt. Dadurch löste er psychische Leiden aus den Wirren moralischer Schuld und platzierte sie voll und ganz im Feld der Medizin. Auf diese Weise wurde eine Landkarte geschaffen, die klinischen Praktikern und PraktikerInnen bei der Orientierung auf ihrem Weg durch die chaotische Welt des Wahnsinns helfen sollte.7

Die psychiatrischen Diagnosesysteme, die in der Folge entstanden, folgten dem Beispiel der somatischen Medizin. Sie versuchten, Geisteskrankheiten als diagnostische Einheiten abzugrenzen, die eine erkennbare Ursache und einen vorhersehbaren Verlauf und Prognose hatten. In der psychiatrischen Diagnose benutzte man einen inferentiellen Ansatz, der über die beobachtbaren Phänomene hinausgeht und von ihnen auf mögliche Ursachen und Verläufe schließt (z. B. die Unterscheidung zwischen »endogener« und »reaktiver« Depression). Dieser Ansatz basierte jedoch auf Wunschdenken und erwies sich als Illusion. Wir kennen die Ätiopathologie (Ursachen und Mechanismen, die zum Entstehen einer Krankheit führen) einer absoluten Mehrheit der geistigen Störungen nicht (Smolik 2002).

Ab den 60er-Jahren des 20. Jahrhunderts verwendete man bei psychiatrischen Diagnosen einen empirischeren Ansatz, der rein auf beobachtbaren Phänomenen basierte (z. B. einfach depressive Symptome zu diagnostizieren, ohne über ihre Ursachen zu spekulieren). Zusätzlich begannen die Diagnosesysteme, nicht nur die psychopathologischen Symptome zu beschreiben. Weitere diagnostische Achsen wurden eingeschlossen, die auch die Persönlichkeit, den Lebensstil, den Grad der Einschränkung und das Umfeld einer PatientIn abdeckten. Heute haben wir überwiegend zwei psychiatrische Diagnosesysteme (DSM IV, ICD 10). Diese präsentieren sorgfältige, doch willkürliche Entwürfe, deren Aufgabe es ist, den Weg zu vereinfachen, indem man durch die Verwendung einer Landkarte kommuniziert, die von allen in der klinischen Praxis Arbeitenden geteilt wird.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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