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3.9 Störungen der Funktionen des Selbst: Psychopathologie und gestalttherapeutische Diagnose

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»[…] wir sind uns von Anfang an bewusst, daß ein starker Irrtum bereits ein kreativer Akt ist, der für denjenigen, der ihn vertritt, irgendein bedeutsames Problem lösen muss.« (Perls / Hefferline / Goodman, 2006, Bd. I, 44). Die erste Frage, die wir im Hinblick auf die Psychopathologie stellen müssen, lautet: »Wie können wir in der Gestalttherapie über Psychopathologie sprechen?« (Robine 1989). Das Grundverständnis von Widerständen als kreative Anpassungen führt dazu, dass wir eine ganz besondere Auffassung von Psychopathologie haben. Wir glauben, dass jedes Symptom oder Verhalten, das normalerweise als pathologisch definiert wird, eine kreative Anpassung eines Menschen in einer schwierigen Situation darstellt. Die sogenannten Verluste der Ich-Funktion sind kreative Entscheidungen, um im Laufe verschiedener Phasen des Kontakterlebens mit der Umwelt die Entwicklung von Erregung zu vermeiden. Wie ich bereits ausgeführt habe, würde diese Erregung zu einem Angsterleben werden, da sie nicht unterstützt wird.

Gewohnheitsmäßige Unterbrechungen des Kontakts führen zu einer Akkumulation unvollständiger Situationen (unterbrochene Spontaneität führt zu offenen Gestalten und unerledigten Situationen), die in der Folge andere Prozesse signifikanten Kontakts immer wieder unterbrechen.

Die Angst, die mit der primären Kontaktunterbrechung einhergeht (die zur Gewohnheit wird, da sich die Situationen wiederholen), ist die Folge von Erregung, die auf der physiologischen Ebene nicht angemessen von Sauerstoff unterstützt wird (ausreichende Atmung) und auf der sozialen Ebene keine befriedigende Reaktion aus der Umwelt auslöst (Spagnuolo Lobb 2001c, 2001b). Diese Art der Erregung kann den Organismus nicht zu einer spontanen Entwicklung des Selbst an der Kontaktgrenze führen. Die von TherapeutInnen bei PatientInnen am häufigsten beobachtete Unterbrechung ist die Retroflexion. Man muss »die Zwiebel schälen«, wie Perls es ausdrückt, um die ursprüngliche Unterbrechung aufzuspüren (Perls 1995a, 93 ff.).

Viele von uns, besonders die Mitarbeiter am New York Institute for Gestalt Therapy, fragen sich, was blockiert ist, wenn Perls, Hefferline und Goodman (2006, Bd. I, 309–324) von Blockaden sprechen. Ist der Kontakt blockiert? Aber wie kann der Kontakt blockiert sein, wenn doch immer Kontakt da ist? Was könnte sonst blockiert sein? Meine Antwort auf diese Fragen ist, dass die Spontaneität, mit der man in Kontakt tritt, blockiert ist, nicht der Kontakt selbst (Spagnuolo Lobb 2001a). Der Kontakt kommt tatsächlich in jedem Fall zustande, doch die Qualität, in der dies geschieht, verändert sich. Dadurch ist der Kontakt weniger spontan und wird so zu einer Quelle der Angst.

Die vollständige Präsenz an der Kontaktgrenze, mit vollem Selbstgewahrsein und ganzem Einsatz unserer Sinne, geht mit Spontaneität einher. In diesem Zustand sehen wir den anderen / die andere deutlich. Eine TänzerIn, die sich spontan bewegt, tanzt anmutig und graziös – ohne jedoch zu wissen, welcher Fuß sich zuerst bewegt. Wenn die Spontaneität unterbrochen wird (die TänzerIn könnte Angst haben, dass sie den Fuß nicht im richtigen Moment bewegt), wird Erregung zur Angst, die vermieden werden muss (Tanzen wird schwierig). Dann entwickelt sich die Intentionalität entlang komplexer, gestörter Bahnen (das Selbst, das tanzt, wird z. B. zum Selbst-das-dem-Menschenbeim-Tanzen-zusieht), das In-Kontakt-Treten ist an Angst gekoppelt (was einem nicht bewusst ist) und läuft mittels Introjektion, Projektion, Retroflexion, Egotismus oder Konfluenz ab.

Nehmen wir ein anderes Beispiel: Wenn ein junges Mädchen spontan den Wunsch verspürt, ihren Vater zu umarmen, und ihr der Vater mit Kälte begegnet, unterbricht sie ihre spontane Bewegung auf ihn zu, blockiert aber nicht ihre Intentionalität, mit ihm in Kontakt zu treten. Die Erregung von »Ich will ihn umarmen« wird bei einer einatmenden Bewegung blockiert (sie hält den Atem an) und verwandelt sich, da sie nicht von Sauerstoff unterstützt wird, in Angst. Um diese Angst zu vermeiden, lernt sie, etwas anderes zu tun und vergisst die ursprüngliche Intention. Sie stellt einen Kontakt mithilfe unterschiedlicher Arten von Unterbrechungen oder Widerstand gegen die Spontaneität her, so wie zum Beispiel durch:

• Introjektion: Das Entstehen der Erregung wird unterbrochen, indem eine Regel oder eine vorschnelle Definition verwendet wird (z. B. »Du solltest zurückhaltender sein«, oder »Man soll Väter nicht umarmen«);

• Projektion: Das Entstehen der Erregung wird unterbrochen, indem sie verleugnet und der Umwelt zugeschrieben wird (z. B. »Mein Vater lehnt mich ab« oder »Er findet meine fehlende Zurückhaltung falsch«);

• Retroflexion: Das Entstehen der Erregung wird unterbrochen, indem sie sie auf sich selbst richtet anstatt sich zu einem vollen In-Kontakt-Treten mit der Umwelt führen zu lassen (z. B. »Ich brauche es ist nicht – es ist nicht gut für mich – ihn zu umarmen«);

• Egotismus: Der Kontakt mit der Umwelt kommt zustande, doch er geht zu schnell vorüber, bevor das Neuartige in der Umwelt kontaktiert und assimiliert werden kann (z. B. umarmt das Mädchen seinen Vater, erlebt jedoch nicht das Neue an diesem Ereignis und sagt sich: »Ich wusste, dass es nichts Neues für mich sein würde, wenn ich ihn umarme.«);

• Konfluenz: Das Mädchen entwickelt keine Erregung, da der Abgrenzungsprozess von Organismus und Umwelt noch nicht einmal einsetzt (z. B. übernimmt sie die Kälte des Vaters als eigene Einstellung und denkt gar nicht erst an die Möglichkeit, ihn zu umarmen).

Neben den oben genannten »Verlusten der Ich-Funktion« müssen wir die Frage stellen, welche Funktion hauptsächlich gestört ist: die Persönlichkeits-Funktion oder die Es-Funktion? Bei einer Störung der Persönlichkeits-Funktion wird der Kontakt durch Starrheit oder Angst gegenüber etwas Neuem im Feld in Bezug auf soziale Beziehungen gestört, und das Ich verliert bestimmte Fähigkeiten. Als Beispiel könnte man das Mutter-Werden nennen, das nicht nur eine biologische Veränderung, sondern auch eine Veränderung sozialer Beziehungen erfordert (Mutter eines Kindes zu sein). Was neu erscheint, wird von der Ich-Funktion als »nicht für mich« definiert (an dieser Stelle fehlt die Unterstützung durch die Persönlichkeits-Funktion). Die Ich-Funktion kann sich nicht an die Veränderungen der sozialen Beziehungen, der kulturellen Werte oder der Sprache anpassen, die durch die Situation entstehen. In Verbindung mit der Es-Funktion, durch die Empfindungen organisiert werden, tragen Störungen der Persönlichkeits-Funktion zu einer Behinderung der Funktionsweise des Ich bei, die die Wurzel für neurotische Störungen darstellt.

Im Gegensatz dazu besteht bei Psychosen eine schwere Störung der Es-Funktion: Der Hintergrund an Sicherheiten fehlt, der durch assimilierte Kontakte entsteht. Auf diesem Hintergrund kann das Ich seine Fähigkeit zu entscheiden nicht ausüben. Das In-Kontakt-Treten wird also von den Empfindungen dominiert, die in ein Selbst eindringen, das gewissermaßen »keine Haut hat«. Alles, was außerhalb passiert, wird potenziell so wahrgenommen, als würde es auch innen passieren: Das Selbst bewegt sich ohne klare Wahrnehmung der Grenzen mit der Umwelt (Konfluenz). Es befindet sich in einem Zustand, in dem alles Neue Angst machend (man kann sich nicht sicher sein, ob nicht gleich ein Erdbeben stattfindet) und nichts assimilierbar ist (da nichts wirklich als anders oder neu wahrgenommen werden kann). Dieses gestörte Erleben der Ich-Funktion wird auf vielfältige Weise deutlich: in der Atmung, in der Körperhaltung, in der Art, wie die eine PatientIn andere ansieht und Beziehungen mit ihnen eingeht, wie auch in ihrer Sprache. Daher sind Körper und Sprache für die TherapeutIn die wichtigsten Werkzeuge für eine phänomenologische Interpretation. Eine PatientIn kann z. B. ihr Erleben beschreiben, indem sie sagt: »Ihre Stimme ist in mein Gehirn eingedrungen« oder »Dieses Glas Wasser hat meinen Magen zerstört« oder »Es war nicht der Held im Film, der geblutet hat, das war ich, aber man konnte es auf dem Bildschirm sehen« oder auch »Wenn Sie lächeln, fällt mir das Atmen leichter«. Diese Beispiele machen uns noch einmal deutlich, dass im Fall von psychotischen Erlebensstrukturen eine unmittelbare Verbindung zwischen außen und innen besteht, die bei therapeutischen Interventionen berücksichtigt werden muss (Spagnuolo Lobb 2002a, 2003a).

Ich werde in Kapitel 4 näher auf die gestalttherapeutische Diagnose eingehen, es ist diesem Thema gewidmet. Das Ziel dieses Abschnitts ist es, die Epistemologie der Psychopathologie und der gestalttherapeutischen Diagnose13 zu definieren.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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