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4. Die Koordinaten einer gestalttherapeutischen Psychopathologie

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Aus gestalttherapeutischer Sicht sind Symptome Erzeugnisse eines kreativen Selbst und offenbaren die menschliche Einzigartigkeit (Perls / Hefferline / Goodman 2006). Die Psychopathologie ist ein ko-kreatives Feldphänomen, das eine einzigartige kreative Anpassung in einer schwierigen Situation darstellt. Wenn sie zu einer fixierten Gestalt wird, dient sie nicht mehr den Bedürfnissen des Individuums und seiner Umwelt, sondern engt sein Spektrum an Potenzialen ein. Die Symptome werden nicht als eigenständige Elemente betrachtet, sondern als ein eingeengtes Funktionsspektrum (Zinker 1978). Die Symptome deuten auf eine eingeschränkte Flexibilität in den Reaktionen der KlientIn hin. Sie ist in ihrer Fähigkeit eingeschränkt, fließenden Kontakt zu ihrer Umwelt zu haben. Sie ist dann nicht in der Lage, ihren jeweiligen Bedürfnissen entsprechend zu handeln: Ihr Verhalten und aktuelles Erleben werden von fixierten Mustern bestimmt. Sie folgt einer Gewohnheit und trifft keine gezielte Entscheidung (Yontef 1993).

Psychopathologische Symptome sind phänomenologisch feststellbare Manifestationen von fixierten Gestalten. Diese starren Muster verursachen ein Leiden der Kontaktgrenze und von Beziehungen (natürlich trägt das Individuum zu der Gestaltung seines Beziehungsfeldes bei). Sie werden auch in der therapeutischen Beziehung zu einer Figur: Beide, die KlientIn und die TherapeutIn, sind die gemeinsam Schöpfer der Psychopathologie, die sich in der Beziehung herausbildet. TherapeutInnen können das starre Feldgebilde mithilfe ihrer Bewusstheit verlassen. Auf diese Weise unterstützen sie die Beziehung und bieten den KlientInnen eine Möglichkeit, ihr Spektrum an Möglichkeiten zu erweitern. Die TherapeutIn bietet ein Kontakterleben an, das der PatientIn bisher gefehlt hat und nach der sie auf der Suche war (Salonia 1989c, 2001a; Spagnuolo Lobb 1990, 2001a).

In diesem Sinne sind Symptome immer ein Appell, eine Bitte nach einer bestimmten Beziehung: eine Art des Kontaktes, in dem die Symptome nicht mehr gebraucht werden (Sichera 2001). Eine Panikattacke kann also der Ruf nach einer Beziehung sein, in der es genug Unterstützung aus dem gemeinsamen Zugehörigkeitsgefühl gibt, nach einem Kontakt, der genügend Unterstützung bietet, um in diese Welt zu treten (siehe auch Kapitel 24 über Angst- und Panikstörungen). An der Kontaktgrenze zu sein hilft der TherapeutIn, die Kontaktschwierigkeiten zu verstehen, die die Beziehung belasten, und herauszufinden, was sie tun muss, um der Beziehung selbst Unterstützung zu bieten.

Nach Auffassung der Gestalttherapie gründet sich das klinische Verstehen des Leidens auf einer Reihe von Komponenten, mit deren Hilfe ein epistemologisches Profil umrissen wird. Wir sind überzeugt, dass man auf diesen Grundlagen eine gestalttherapeutische Perspektive entwickeln kann, die wir sogar als gestalttherapeutische Psychopathologie bezeichnen würden. Sie definiert sich folgendermaßen:

Phänomenologisch: Das bedeutet nicht interpretativ ausgerichtet, sondern bemüht, gelebte Erfahrung zu verstehen. Gelebter Erfahrung wird bei diesem Ansatz volle und bedingungslose Würde und Wertigkeit zugesprochen. Diese Position stimmt mit dem epistemologischen Standpunkt der phänomenologischen Psychiatrie überein (Jaspers 1913; Merleau-Ponty 1945; Binswanger 1963; Minkowski 1927, 1999; Callieri 2001a; Borgna 1989, 2005, 2008b; Kimura 2000, 2005). Fixierte Gestalten verursachen Leiden in Beziehungen, indem sie einen vollständigen Kontakt mit der aktuellen Realität verhindern. Aus diesem Grund behandelt die gestalttherapeutische Psychopathologie die Kategorisierung von Erleben mit Vorsicht und vermeidet die Kategorisierung von Subjekten. Das Erleben psychopathologischen Leidens ist anthropologisch gesehen »normal«. Es ist allen Menschen zugänglich. Alle Menschen können mehr oder weniger ausgeprägtes Leiden in Beziehungen erleben, für das es ein Kontinuum zwischen gesundem und psychopathologischem Erleben gibt.

Beziehungsgebunden:

1. Psychopathologie ist das Leiden von Beziehungen. Subjekt und Objekt der Behandlung ist nicht das Individuum, sondern die Beziehung, die an der Kontaktgrenze entsteht. Diese Beziehung behandelt die PsychotherapeutIn, indem sie an der Kontaktgrenze steht. Es ist die Kontaktgrenze, die leidet, und es ist die Kontaktgrenze, die durch die Therapie geheilt wird. Der Ursprung des Leidens sowie seine Heilung liegen in der Beziehung (Salonia 1992, 2001a; Spagnuolo Lobb 2001a, 2005a; Sichera 2001; Yontef 2001a; Philippson 2001). Subjektives Leiden geht nicht mit Psychopathologie einher: Subjektives Leiden kann es auch ohne Psychopathologie geben und Psychopathologie kann ohne subjektives Leiden existieren. Dabei ist Letzteres möglicherweise die häufigere Variante.

2. Gelebte Erfahrung wird gemeinsam in der Beziehung erschaffen (Spagnuolo Lobb 2003b; Stern et al. 1998). Selbst die grundlegenden erlebnisorientierten Koordinaten, Grenzen, Raum und Zeit sowie Energie und Vitalität sind keine Funktionen des Individuums, sondern Funktionen der Beziehung, von der sie auch abhängen (Salonia 2001a; Francesetti 2011). In der Therapie muss das Leiden der PatientIn als Phänomen verstanden werden, das sich im therapeutischen Feld herausbildet (Robine 2011; Spagnuolo Lobb 2001a; Stolorow et al. 1999).

3. Die gestalttherapeutische Psychopathologie konzentriert sich auf den Moment und sieht sich an, wie die Spontaneität des Kontaktes gestört ist und die Intentionalität ohne Unterstützung bleibt (Spagnuolo Lobb 2001a). In diesem Moment ist das Selbst an der Kontaktgrenze nicht vollständig anwesend und die TherapeutIn interveniert, um die Beziehung zu unterstützen. Genau genommen ist nicht der Kontakt gestört, sondern die Spontaneität des Kontaktes. Dem Kontakt (der Beziehung im Hier und Jetzt) fehlt die nötige Unterstützung, um die Intensität und die Harmonie der vorhandenen Intentionalitäten aufrechtzuerhalten. Er erreicht das Neue nicht, das durch das gemeinsame Erschaffen der Kontakterfahrung in all den Potenzialen seines Feldes entstehen könnte. Die Energie, die die Intentionalität untermauert, geht entweder verloren oder sucht sich andere Bahnen: Die Intentionalität ist verzerrt12 und der Pfeil erreicht sein Ziel nicht.13 Die Kontaktepisode durchläuft alle Phasen des Kontaktmusters, jedoch ohne die Kraft und die Schönheit, die entstehen würden, wenn alle Intentionalitäten im Feld gesammelt und ausgedrückt würden.

4. Beziehungen sind niemals dual: Wie wir gesehen haben, gibt es immer eine(n) Dritte(n), dem gegenüber sie offen sind und der sie beschränkt.

Temporal: Zeit und Raum werden gemeinsam von der PatientIn und von der TherapeutIn geschaffen. Die TherapeutIn passt sich an die Raum-Zeit der PatientIn an und verändert sie (durch den Aufbau gemeinsamer Erfahrung). Je fragiler der Hintergrund der PatientIn ist (und je größer dadurch ihr Leiden ist), desto mehr Verantwortung muss die TherapeutIn für die Bildung und Bewahrung der Raum-Zeit-Koordinaten der Beziehung übernehmen (Spagnuolo Lobb 2003a; Francesetti 2011). Die Zeit ist eine Komponente des/der Dritten. Sie verwurzelt und platziert die Beziehung in einer Geschichte und erstellt auf diese Weise ein Narrativ, das den Brückenschlag zum/zur Anderen ermöglicht. Im Grunde genommen kann ein Subjekt nur insofern Subjekt sein, als es Subjekt einer Geschichte ist. Zeit und Realität sind miteinander verbunden (Salonia 1992; Maldiney 2007). Die Beziehung verleiht der Zeit Bedeutung, doch umgekehrt verleiht auch die Zeit der Beziehung Bedeutung. Aus diesem Grund ist es möglich, eine zeitlich begrenzte Pathologie wie z. B. eine Stimmungserkrankung durch die Beziehung zu heilen (und sie nicht nur phänomenologisch zu verstehen).

Ganzheitlich: Das Leiden ist nicht nur geistiger Natur. Das Leiden der Beziehung wird vom Subjekt als Ganzes und durch sein Erleben wahrgenommen, das immer körperlich ist. Die Geist/Körper-Dichotomie ist eine neurotische Spaltung (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Kepner 1993; Frank 2001; Salonia 1986; Spagnuolo Lobb 2004b). Außerdem ist das Leiden immer an der Kontaktgrenze phänomenologisch erkennbar, wo belebte Körper entstehen: Die Zwischenleiblichkeit ist die Dimension, in der sich das Leiden zeigt und wo man ihm begegnen und es heilen kann (Merleau-Ponty 1945; Salonia 2008a; Frank 2001).

Kreativitätsorientiert: Das Leiden einer Beziehung ist das Ergebnis von kreativen Anpassungen in einem schwierigen Feld. Ursprüngliche Kreativität kann verloren gegangen und zu einer fixierten Gestalt geworden sein. Trotz allem kann es sein, dass sie dem Leben des Menschen immer noch eine positive Bedeutung verleiht (Perls / Hefferline / Goodman 1994; Zinker 1978; Spagnuolo Lobb 1990, 2003b, 2005a). Dies wird bei der neurotischen Anpassung deutlich, bei der eine kreative Anpassung an irgendeinem Punkt im Leben eines Menschen zu einer reduzierten Anwesenheit an der Kontaktgrenze führt. Das psychotische Erleben ist anderer Natur. Eine Psychose ist der Ausdruck eines Mangels an Hintergrund. Hier ist es nicht das Ziel, die Bewusstheit für gestörten Kontakt wiederherzustellen und dadurch zu integrieren, mit dem Ergebnis, dass die Möglichkeit zu neuen kreativen Anpassungen wiederhergestellt wird: Vielmehr ist es hier die Aufgabe der therapeutischen Beziehung, einen Hintergrund zu schaffen, der bisher nicht existiert (Spagnuolo Lobb 2003a; Salonia 2001a; Conte 2001).14

Situationsbezogen: Das Leiden wird immer von der jeweiligen Situation bestimmt und entsteht aus dem Kontext heraus. Die Situation definiert die Psychopathologie nicht nur: Sie ist wesentlich an der Entstehung einer Psychopathologie beteiligt oder hilft, einen Menschen davor zu schützen (Robine 2011; Salonia 2007b; Gecele / Francesetti 2007). Beispielhaft dafür ist das berühmte Stanford-Gefängnis-Experiment (Zimbardo 2008).15 Es ist kontextabhängig, ob sich eine Art von Leiden (zum Beispiel ein narzisstisches Leiden oder Panikattacken) in selten auftretenden und isolierten oder endemischen und normalen Symptomen zeigt: Es kann geschätzt und belohnt werden oder es kann dem Menschen, der daran leidet, zum Nachteil gereichen. Salonia hat beobachtet, dass alle sozialen Kontexte das Entstehen eines »grundlegenden Beziehungsmodells« fördern, das in bestimmten historischen und kulturellen Umgebungen unterstützt und belohnt wird und das in diesem Kontext zur Beziehungsnorm wird (Salonia 2007b, 2008b).

Entwicklungs- und auf das Nächste hin orientiert: Jedes Leiden hat eine Geschichte, die den Schlüssel zu seiner Bedeutung enthält. Das Symptom ist die Spur, die die Vergangenheit im gegenwärtigen Beziehungsmodell im Hier und Jetzt hinterlassen hat. Von diesen Spuren haben besonders jene Gewicht für die Entwicklung des Selbst und damit für die Schwere der Störung, die in der frühen Kindheit hinterlassen wurden (Pine 1985; Salonia 1989b, 2001a; Stern 1985; Wheeler / McConville 2002, Spagnuolo Lobb 2003a; Righetti 2005; Mione / Conte 2004). Es gibt viele Ansätze, die versuchen, Forschungsarbeit auf dem Gebiet der Kindesentwicklung mit der Gestalttherapie zu verknüpfen (Salonia 1989b, 2001a; Frank 2001; Wheeler / McConville 2002; Spagnuolo Lobb 2011a). Dabei konzentrieren sie sich auf die Frage, wie die Fähigkeit der Kontaktnahme erworben oder nicht erworben wird. Nicht erworbene Fähigkeiten tauchen in der Therapie als Bedürfnis nach einem bestimmten und neuen Kontakterleben auf. Dies ist das Beziehungsbedürfnis, das die PatientIn in der Therapie stillen oder dessen sie sich bewusst werden und das sie anerkennen will. Dies ist ihre gestörte Kontaktintentionalität und gleichzeitig ist es ihre Geschichte und ihr nächster Schritt. Jedes Leiden hat sein Beziehungs-»Nächstes«, an dem es sich orientiert und das seine Bedeutung ans Licht bringt (Polster / Polster 1973; Salonia 1989c, 1992; Spagnuolo Lobb 2007c, 2008b). In ihrer Hilfestellung lässt sich die TherapeutIn von dieser grundlegenden Frage leiten: »Auf welches Beziehungserleben steuert die PatientIn zu?« Die Antwort auf diese Frage zeigt die Richtung der Therapie an. Beispielsweise trägt das narzisstische Leiden einen bedürftigen Anteil mit sich, der in der Vergangenheit in keiner Beziehung zum Ausdruck gebracht werden konnte. Im Kontakt wird dieser Anteil versteckt und ist von Scham überlagert – das »Nächste« in der therapeutischen Beziehung besteht darin, Bedingungen zu schaffen, unter denen dieser Anteil als Beziehungsbedürfnis hervortreten kann.

Ästhetisch: Das Kriterium, an dem gemessen wird, was gesund und was ungesund ist, ist beziehungsimmanent (siehe oben). Es ist ein ästhetisches Kriterium: Gesundheit bedeutet die Fähigkeit, eine Kontaktfigur zu schaffen, die elegant, hell, rhythmisch und harmonisch ist (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Bloom 2003; Spagnuolo Lobb 2007c, 2007a; Robine 2006b). Man braucht keine externen Evaluationsmethoden, die auf einem Vergleich zwischen dem Geschehen und einer externen Norm als Bezugspunkt basieren (Perls / Hefferline / Goodman 2006): Es ist die ästhetische Schönheit der Kontaktnahme, die der TherapeutIn als Richtschnur dient. Die TherapeutIn achtet fortlaufend auf die Kontaktqualitäten und passt ihre Anwesenheit an der Kontaktgrenze kreativ an: Dies bildet die Einheit des diagnostischen und des therapeutischen Handelns (Perls / Hefferline / Goodman 2006; Bloom 2003). Indem sie die Spuren von Intentionalität und den Verlust der Spontaneität wahrnimmt, positioniert sich die TherapeutIn neu in der Beziehung, an deren Erschaffung und Heilung sie in jedem Moment beteiligt ist.

Dimensional statt kategorial: Der kategoriale Ansatz definiert eigenständige, strikt voneinander getrennte Kategorien, die als objektive Identität gegenüber pathologischen Situationen oder Individuen fungieren. Der dimensionale Ansatz unterscheidet sich von dieser Herangehensweise, indem er Leidensphänomene als sich in einem Kontinuum befindliche Größen betrachtet. In diesem Kontinuum gibt es keine klaren Grenzen zwischen Gesundheit und Krankheit (APA 1994; Barron 1998). Alle Erfahrungen und alle Beziehungen sind mehrdimensional. Je nach Lebensmomenten und -situationen kann jeder Mensch eine narzisstische, Borderline-, depressive, süchtige, psychotische oder andere Dimension haben. Pathologie ist also kein klar definiertes Gebilde, das sich von einem gesunden Spektrum abgrenzen ließe. Menschen, die Hilfe suchen, sehen sich mit denselben existenziellen Themen konfrontiert wie wir alle – Liebe, Einsamkeit, Zeit, Tod. Der Unterschied liegt in der Möglichkeit oder Unmöglichkeit, sich die nötige Unterstützung nutzbar zu machen, um sein Leben zu meistern. Ein dimensionaler Ansatz kann in eine Perspektive integriert werden, die mit Schwellen für jede der verschiedenen Dimensionen arbeitet (Cancrini 2006). Von diesem Standpunkt aus kann sich zum Beispiel, abhängig von den Umständen, bei allen Individuen ein Borderline-Erleben manifestieren. Was bei den Menschen unterschiedlich ist, ist die Schwelle, bei der ein solches Erleben eintritt. Bei manchen Menschen ist diese Schwelle niedriger als bei anderen, sodass sich bei ihnen ein derartiges Erleben leichter manifestiert. Es kann also in jeder Situation oder Beziehung Borderline-, narzisstisches, psychotisches und anderes Erleben eintreten. In bestimmten historischen und sozialen Umständen wird eine bestimmte Art des Erlebens die Norm. Beispiele hierfür sind unter anderem das Borderline-Verhalten während der Französischen Revolution (Cancrini 2006) oder der narzisstische Trend der letzten Jahrzehnte des vergangenen Jahrhunderts (Lasch 1978). Diese Perspektive lässt sich optimal mit dem Konzept des »grundlegenden Beziehungsmodells« verbinden, das Giovanni Salonia eingeführt hat (Salonia 2007a, 2008b).

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