Читать книгу Gestalttherapie in der klinischen Praxis - Группа авторов - Страница 26

3.10 Psychopathologie als kreative Anpassung

Оглавление

In den bisherigen Ausführungen werden einige grundlegende Punkte deutlich, z. B. was das Verständnis von menschlicher Entwicklung und Psychopathologie als kreative Anpassung angeht (siehe Spagnuolo Lobb / Amendt-Lyon 2003). Es ist nicht so, dass manche Verhaltensweisen reif und richtig sind und andere falsch und unreif. Die Begriffe »gesund« und »reif«, oder »pathologisch« und »unreif« beziehen sich auf eine Norm, die außerhalb des Erlebens des Menschen steht und von jemandem aufgestellt wurde, der nicht an der Situation beteiligt ist (und der aus genau diesem Grund behaupten kann, »objektiv« zu sein). Die phänomenologische Sichtweise wirft zwar das Dilemma zwischen Subjektivität und Objektivität auf, das eine zentrale Frage für viele Philosophen darstellt (von Husserl über Heidegger bis Merleau-Ponty und in manchen Punkten auch Kierkegaard und Adorno), doch sie betrachtet das Erleben als die eigentliche Quelle der Erkenntnis, das sich in keiner Weise durch konzeptionelle Analyse ersetzen lässt (Watson 2007, 529). Es ist daher wichtig, die Intentionalität eines Verhaltens zu berücksichtigen, also den Kontakt, der es motiviert und belebt. Wissen, das im Körper verankert, auf Kontakt ausgerichtet, ästhetisch und unmittelbar wahrnehmbar und in der Ganzheit von Organismus und Umweltverwurzelt ist, entspricht unserem Ansatz am ehesten. Wie Merleau-Ponty (1965 oder ed. 1979) betont, bedeutet phänomenologisches Wissen immer wieder, »von neuem [zu] lernen, die Welt zu sehen«: In der Welt der Phänomenologie schließt Wissen Intuition nicht aus, da sie aus der Wahrnehmung heraus entsteht (Merleau-Ponty, 1965). Und da Wahrnehmung auf den Sinnen gründet, ist sie eng mit einer ästhetischen Bewertung verbunden.

Abwehrverhalten wird von der psychodynamischen Position aus traditionell als hinderlich für den therapeutischen Prozess betrachtet. Aus gestalttherapeutischer Sicht dagegen gilt es als beziehungsorientierte Fähigkeit. Sie basiert auf einem Prozess der kreativen Anpassung, der unterstützt werden muss. Diese Haltung macht es der Psychotherapie möglich, sich von einem extrinsischen Gesundheitsmodell weg auf ein ästhetisches Modell zuzubewegen, dessen Grundpfeiler die aktuelle Wahrnehmung der Begegnung zwischen TherapeutIn und PatientIn ist, somit auf Faktoren, die der Beziehung innewohnen (siehe Spagnuolo Lobb 2011c, 117; Francesetti / Gecele 2011). Die gestalttherapeutische Diagnose konzentriert sich auf jene Kontaktmodalität, mit der der Mensch die Angst vor der Erregung vermeidet, die durch Kontakt entsteht. Dies macht es möglich, diejenige Art des Kontakts näher zu bestimmen, auf den sich die therapeutische Beziehung stützen wird.

Das klinische Problem, mit dem sich die GestalttherapeutIn konfrontiert sieht, ist also im Einklang mit der phänomenologischen Forschung, die von natürlichen Beweisen ausgeht und zu einem transzendenten Wissen gelangt, indem sie jegliche Bewertung vermeidet und sich von der Intuition leiten lässt. Es ist auch im Einklang mit dem Pragmatismus, für den das Erleben in der Empfindung wurzelt (James 1983) und der es als ästhetischen Prozess des Organismus und der Umwelt in einem ko-kreativen Gleichgewicht betrachtet, der voller Grazie, Harmonie und Rhythmus ist (Dewey 1934).14 Die GestalttherapeutIn möchte ihre PatientIn nicht dazu bringen, ihr Verhalten oder Erleben nach einem »gesunden« oder »reifen« Standard auszurichten. Sie will ihr vielmehr ermöglichen, (wieder) mit Spontaneität in Kontakt zu treten und vollständig im Kontakt gegenwärtig zu sein. Die therapeutische Aufgabe besteht darin, dem Menschen zu helfen, das Erleben seiner kreativen Anpassung wahrzunehmen und es sich (wieder) ohne Angst, also mit Spontaneität, mit allen Sinnen zu eigen zu machen.

Die intuitive Hypothese der Begründer der Gestalttherapie, nach der die primäre Realität die ko-kreierte Gegenwart an der Kontaktgrenze und somit die Gestalt ist, die aus den Begegnungen der Kontaktintentionalitäten entsteht, hat neuerdings aus zwei unterschiedlichen Richtungen Bestätigung erfahren: durch neurowissenschaftliche Forschungen, die das aktuelle Interesse der Wissenschaft an der beziehungsorientierten Beschaffenheit des Gehirns15 spiegeln, und durch die aktuellen Überlegungen von Daniel Stern (2010), der die Wahrnehmung von Formen in Bewegung als grundlegende Einheit des Bewusstseins betrachtet.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

Подняться наверх