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3. Extrinsische oder Landkartendiagnose4 3.1 Müssen wir eine Diagnose stellen?

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Der Therapeut braucht seine Konzeption, um Kurs zu halten und um zu wissen, in welche Richtung er schauen soll. Der erworbene Habitus bildet hier den Hintergrund für diese Kunst, wie bei jeder anderen Kunst auch: Wie nutzt man diese Abstraktion (und daher diese Fixierung), damit man die gegenwärtige Situation – und vor allem den gegenwärtigen Prozess – nicht aus den Augen verliert? Und wie – und dies ist ein besonderes Problem, das die Therapie mit der Pädagogik und der Politik gemein hat – vermeidet man es, eine Norm durchzusetzen, statt dem anderen zu helfen, sein Potenzial zu entwickeln? (Perls / Hefferline / Goodman 2006, Bd. 1, 310)

In ihrer theoretischen Grundlage und historischen und klinischen Entwicklung betrachtet die Gestalttherapie die therapeutische Beziehung als einen Kontaktraum. Durch Kontakt lassen Subjekte eine authentische, einzigartige und ko-kreierte Beziehung entstehen, die sie wiederum formt und ausmacht. Das Ziel der therapeutischen Beziehung ist es, in diesem Modell, die Kontaktintentionalität5 zu unterstützen, um gemeinsam eine neue nährende Erfahrung zu schaffen, an der die PatientIn wachsen kann. Sie wird auf keine Weise objektiviert. Objektivierung würde zum irreparablen Verlust der Anwesenheit des/der anderen führen und wäre der Richtung, in die sich die Gestalttherapie bewegt, diametral entgegengesetzt. Vor diesem beziehungsorientierten Horizont wird die Diagnose zum Problem.

Das Misstrauen, das GestalttherapeutInnen Diagnosen gegenüber hegen, ist ein deutlicher Hinweis auf das Risiko, Experten und Expertinnen für das Leben unserer PatientInnen zu werden. Die Diagnostik birgt das Risiko, unser Bild der PatientIn zu behandeln und der PatientIn nicht zu begegnen. Dennoch ist es wichtig, uns klarzumachen, dass wir gar nicht umhinkönnen, eine Art von Diagnose zu stellen. Jede Erfahrung ist im Moment ihrer Geburt willkürlich, austauschbar, amorph und chaotisch (Melnick / Nevis 1998). Es ist eine grundlegende menschliche Neigung, jede Erfahrung in eine bedeutsame Struktur zu organisieren. Wir organisieren unsere Erfahrung der Anwesenheit anderer Menschen, wir geben dieser Erfahrung einen Namen, wir geben ihr eine Struktur.6 Wir benennen unsere Umgebung ständig. Als TherapeutIn müssen wir dabei jedoch den Nutzen für die PatientIn im Auge behalten und den Prozess der Diagnosestellung fortlaufend reflektieren.

Wenn eine TherapeutIn auf eine PatientIn trifft, begegnet sie einer Unmenge komplexer Informationen. Diese Informationen stammen aus unterschiedlichen Quellen: die Sinne der TherapeutIn, ihre eigenen emotionalen und körperlichen Erfahrungen, an die sie sich in der Sitzung erinnert, und theoretische Konzepte und Annahmen, die sie im Laufe ihrer Ausbildung integriert hat. Um all diese Information zu verarbeiten braucht eine TherapeutIn Filter und Konzepte, die ihr helfen, sie so zu ordnen, dass sie eine Bedeutung vermitteln. Dies ist notwendig für eine gute Therapie, für einen Kontakt, der heilend und nicht retraumatisierend ist, für die Bestimmung realistischer Behandlungsziele und -methoden und auch als Grundlage für eine verantwortungsvolle Kreativität seitens der TherapeutIn.

Es ist unvermeidlich, dass GestalttherapeutInnen, die in einem klinischen Setting arbeiten (z. B. in der psychiatrischen Abteilung eines Krankenhauses, in der Psychiatrie in der ambulanten psychiatrischen Versorgung) lernen, sich dem Leiden ihrer PatientInnen aus mindestens zwei Richtungen zu nähern. Einerseits ist es für GestalttherapeutInnen selbstverständlich, von der beziehungsorientierten, dialogischen Feldperspektive aus zu arbeiten. Wenn sie jedoch ausschließlich von diesem Standpunkt aus ansetzen, werden sie schwerlich eine gemeinsame Sprache mit ihren Kollegen finden, die ihre Ausbildung in einem medizinischen System absolviert haben. Es wird ihnen vielleicht auch nicht gelingen, ein Arbeitsbündnis mit ihren Patienten und PatientInnen zu entwickeln, da sie mit Erwartungen zu ihnen kommen, die vom medizinischen Paradigma beeinflusst sind. GestalttherapeutInnen in der klinischen Praxis müssen daher auch mit der Perspektive der aktuellen psychiatrischen Diagnosesysteme und psychopathologischen Theorien vertraut sein. Die medizinische und die gestalttherapeutische Perspektive repräsentieren Polaritäten in der täglichen Arbeit von GestalttherapeutInnen in der klinischen Praxis, die in der Spannung zwischen diesen beiden Polen ihren Platz finden müssen. Wenn sich eine der Perspektiven als Figur herausbilden, die andere in den Hintergrund treten und sie ihre Positionen je nach Situation tauschen können, bereichern sie sich gegenseitig.

Die Diagnose hilft der TherapeutIn, sich zu orientieren und bewusst zwischen therapeutischen Arbeitsweisen mit unterschiedlichen Patienten zu unterscheiden. GestalttherapeutInnen sollten nicht stagnieren und sich nur auf die Beobachtung der gegenwärtigen Interaktionen konzentrieren, sondern auch fähig sind, Arbeitshypothesen für Langzeit- und Kurzzeittherapien aufzustellen (Mackewn 1999).

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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