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1. Die Entwicklung der gesellschaftlichen Befindlichkeit und der Psychotherapie

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Fast alle psychotherapeutischen Ansätze entstanden um die 1950er-Jahre herum und erlangten in den folgenden zwanzig Jahren größere Bekanntheit. Seit damals haben sich unsere PatientInnen stark verändert, und so stehen wir vor der Herausforderung, unsere Formulierungen und unsere Methode zu modifizieren und dabei einerseits im Einklang mit der Epistemologie unseres Ansatzes zu bleiben und andererseits neue Instrumente zu schaffen, die geeignet sind, die heutigen Probleme zu lösen. Lassen Sie uns die klinische Entwicklung dieser sechzig Jahre näher betrachten:

• 1950 bis 1970:

Dies war die Zeit, in der die meisten psychotherapeutischen Methoden ihre weiteste Verbreitung fanden. In diesem Zeitabschnitt, in dem Soziologen von der »narzisstischen Gesellschaft« (Lasch 1978) sprachen, zielten alle neuen psychotherapeutischen Ansätze auf die Lösung eines Problems ab, das aus persönlichen Beziehungen und den sozialen Gegebenheiten erwuchs: Wie sollte man dem Potenzial des wirklichen Lebens mehr Würde verleihen, dem Freud in seinen letzten Formulierungen ein Schattendasein zugewiesen hatte, als er der Macht des Unbewussten größere Bedeutung einräumte? Freuds mehr oder weniger rebellische »Nachkommen« – Otto Rank mit seinem Konzept von Wille und Gegenwille (Rank 1941), Adler (1924) mit dem Konzept des Machtstrebens und Reich (1945) mit seinem absoluten Vertrauen in die Sexualität (siehe Spagnuolo Lobb 1996, 72 ff.) – hatten zu Beginn des Jahrhunderts einer veränderten psychosozialen Sichtweise auf menschliche Beziehungen Ausdruck verliehen: Das »Nein« der Kinder (und der PatientInnen) ist gesund, Machtgefühle sind »normal«, körperliche Energie und Sexualität kann man ganz ausleben, ohne in orgiastischem Chaos zu versinken.

Die philosophische Entsprechung dieses Wandels findet sich in den Gedanken Nietzsches.4 Im Bereich der Kunst spiegelten neue Ausdrucksformen, von Jazz bis zum Surrealismus (man denke nur an die fragmentierten Figuren Mirós), den Wunsch wider, neue subjektive Perspektiven zu manifestieren. Auf politischer Ebene zeugten Gesetze zum Schutz von Minderheiten als Reaktion auf diktatorische Regimes von dem Bestreben, allen erdenklichen menschlichen Lebensformen Würde zuzubilligen.

Allen psychotherapeutischen Strömungen, die in den zwanzig Jahren zwischen 1950 und 1970 aufkamen (wie auch manchen »Revisionen« der Psychoanalyse) war die Absicht gemein, dem individuellen Erleben, das man als fundamental bedeutsam für die Gesellschaft erachtete, mit mehr Respekt und Vertrauen zu begegnen. Das Ich wurde neu bewertet, ihm wurde eine kreative, unabhängige Kraft zugeschrieben: Das Kind musste aus der Unterdrückung durch den Vater und PatientInnen von sozialen Normenbefreit werden. Selbst das Verrückt-Sein wurde nicht länger als unwiederbringlicher Verlust des Realitätssinns betrachtet, als Beherrscht-Sein durch ein zerstörerisches Unbewusstes, sondern als Möglichkeit, einen ansonsten unerreichbaren Anteil zu verstehen, der zwar von der Norm abwich, zugleich aber als eine Quelle der Kreativität gesehen wurde: Ähnlich wie ein Bild der unstrukturierte Ausdruck von Emotionen sein kann, hat der Wortsalat der Schizophrenen eine eigene Wertigkeit, die die kreative, unabhängige Kraft des Menschen fördert, selbst wenn sie sich jenseits jeder Rationalität bewegt. Es kam das Bedürfnis auf, sich als wichtig, wenngleich von der Norm abweichend, aber nicht als dominant zu begreifen.

In diesem Kontext lehnte die Gestalttherapie dieses Bedürfnis ab und begründete eine Theorie des Selbst, mit deren Hilfe sich das Erleben beim Kontaktprozess des Organismus mit seiner Umwelt (im Gegensatz zu einem intrapsychischen Kontakt) erfassen ließ. Dabei tritt die Kreativität des Ich zutage, das zugleich Schöpfer und Erschaffenes ist. Der mittlere Modus, der untrennbar mit der Ästhetik der griechischen Kultur verbunden ist (von den europäischen Sprachen haben nur einige griechische Verben einen »mittleren Modus«5), charakterisiert auch die Definition des Selbst: Es »bildet sich« an der Grenze zwischen Organismus und Umwelt mittels eines ästhetischen Prozesses, eines Gewahrseins, einer Präsenz aller Sinne, die einen guten Kontakt ausmachen. Ein weiteres Konzept, mit dem die Gestalttherapie einen Beitrag zu den aufkommenden Bedürfnissen der Gesellschaft in den 1950er-Jahren leistete, widmet sich den positiven Aspekten von Konflikten in menschlichen Beziehungen: Der unterdrückte Konflikt führt entweder zu Stumpfsinn oder zum Krieg (Perls 1969, 7). Einen Konflikt auszutragen garantiert Lebendigkeit und echtes Wachstum.

Doch wie lauteten die typischen Sätze, was sagten die PatientInnen in den 1950ern? Im Mittelpunkt der Nachfrage nach Psychotherapie in diesen Jahren könnte stehen: »Ich will frei sein«, »Bindungen erdrücken mich: sie hindern mich daran, mein Potenzial zu leben«, »Ich brauche Hilfe, um mich aus den Bindungen zu befreien, die mich erdrücken«, »Ich würde gern von zu Hause ausziehen, aber ich schaffe es nicht«, »Ich ertrage es nicht, wenn mein Vater mir sagt, was ich tun soll«. Die klinische Evidenz der 1950er bis 1970er entstand rund um dieses Erleben. Es herrschte das Bedürfnis, das Ich auszuweiten, ihm größere Würde zu verleihen, ein Bedürfnis nach Unabhängigkeit.

Der Erlebenshintergrund, vor dem sich dieses Bedürfnis herausbildete, war solider, als er es in unseren Tagen ist: Zweierbeziehungen waren von längerer Dauer (wenngleich oft durch gesellschaftliche Normen zusammengehalten), und die Beziehungen innerhalb der Familie waren auf jeden Fall stabiler.

Die Antworten der TherapeutInnen lauteten: »Sie haben das Recht, frei zu sein, das Recht, Ihr Potenzial zu entwickeln«, »Ich bin ich und Sie sind Sie …«. Kurz gesagt, unterstützt wurden Selbstregulierung und das Lösen aus Bindungen, ohne sich darum zu kümmern, was an der Kontaktgrenze mit dem/der Anderen passierte.

• 1970 bis 1990:

Für diese Jahre war die »technologische Gesellschaft« kennzeichnend, wie Galimberti (1999) sie nannte, eben weil sie die Maschine auf einen Sockel hob. Gleichzeitig gab sich die Gesellschaft der Illusion hin, man könne die menschlichen Gefühle und vor allem den Schmerz kontrollieren. Die Beziehungen des oikòs6 betrachtete sie als »groben Fehler«, als Hemmnis für die Produktivität, die dagegen als einzig verlässlicher Wert angesehen wurde. Liebe und Schmerz, zwei Emotionen, die in Wirklichkeit untrennbar miteinander verbunden sind, galten in dieser Zeit als unvereinbar.

Wenn man sie als Produkt der »narzisstischen Gesellschaft« sieht, könnte man die »technologische Gesellschaft« als »borderline« definieren. Diese Generation stand einerseits unter dem großen Druck erfolgreicher Eltern, die wollten, dass ihre Kinder »Götter« waren wie sie selbst. Andererseits litt sie unter einem Mangel an Unterstützung für die eigenen Wünsche und ihre Versuche, in dieser Welt jemand zu sein. Das Kind von Göttern macht keine Fehler! Diese Generation, die einerseits mit der Illusion aufwuchs, etwas Besonderes zu sein, und die andererseits das Gefühl verstecken musste, dass sie nur bluffte, entwickelte eine borderlineartige Beziehungsmodalität: ambivalent, unzufrieden und unfähig, sich selbst abzugrenzen, um die eigenen Werte zu bekräftigen. Die Flucht der Jungen in »künstliche Paradiese«, ihr Ärger über ihre Eltern als Repräsentanten von Werten, die wenig mit ihrem Menschsein zu tun hatten, bereitete den Boden für die Verbreitung von Drogen, ermöglichte jedoch auch wichtige Gruppenerfahrungen. Es war kein Zufall, dass in diesen zwanzig Jahren in der Psychotherapie ein besonderes Interesse an Gruppen bestand: Die Gruppe wurde als ein mögliches (und manchmal als das einzig mögliche) Heilmittel betrachtet.

Die Sätze der Patienten und Patientinnen in den 1970ern und 1980ern könnten zum Beispiel lauten: »Ich habe mich in eine Kollegin verliebt, ich habe eine Affäre mit ihr, meine Frau weiß von nichts und ich bin mir nicht sicher, ob ich es ihr sagen soll oder nicht«, »Meine Eltern nörgeln immer an mir herum. Wenn ich in einer Gruppe bin, fühle ich mich freier. Einen Joint zu rauchen ist eine Befreiung von der täglichen Unterdrückung«, »Drogen (oder mein Beruf oder mein Geliebter/meine Geliebte) sind meine wichtigste Bindung, die Bindung zu meiner PartnerIn ist ein Extra.« Man war auf der Suche nach dem Selbst außerhalb intimer Bindungen – ein Versuch, die Schwierigkeiten des »Mitseins« durch illegale Substanzen oder durch Arbeit zu lösen. In den 1990ern, nur zehn Jahre später, trat das Bedürfnis, sich selbst in der Einsamkeit zu spüren, an die Stelle der Suche nach dem Ich: »Ich möchte mich spüren, mich finden. Es gibt Zeiten, in denen ich fasten muss, um mich selbst durch den Hunger zu spüren. Alle wollen etwas von mir und ich weiß nicht, wie ich herausfinden soll, wer ich bin« oder »Ich habe eine Beziehung mit einem Mann, der 600 Meilen von hier lebt. Ich weiß nicht viel über ihn. Zuerst war es nett, zusammen zu sein, wenn wir uns trafen. Doch jetzt ist es langweilig. Wir wissen einfach nicht, was wir machen sollen. Glauben Sie, das ist normal?«

Die Antworten der TherapeutIn waren: »Haben Sie Vertrauen in sich – kehren Sie zurück an den Ursprung Ihres Seins (phänomenologisch gesprochen) – finden Sie heraus, wer Sie sind, indem Sie sich konzentrieren.« Oder auch: »Sehen wir uns doch an, was zwischen uns beiden passiert.« In der Praxis widmeten sich zu dieser Zeit alle Methoden dem, was wir in der Gestalttherapie »Kontaktgrenze« nennen: eine neue Sichtweise auf Übertragung und Gegenübertragung. »Haben Sie Vertrauen in die Selbstregulierung, sowohl Ihrer Emotionen als auch des Raums zwischen uns beiden.« Perls’ Slogan »Verlier den Verstand und komm zu deinen Sinnen« wurde also zu »Folge deinem dir eigenen Mitgefühl« und »Ich erkenne mich selbst in deinem Blick«.

• 1990 bis 2010:

Was die Befindlichkeit der Gesellschaft anging, so führten das Interesse an Technologie (eine Ressource, die heute als selbstverständlich angesehen wird) und die Ambivalenz der eigenen Wertigkeit gegenüber zu einem »Gefühl der Flüchtigkeit« (sense of liquidity), wie Bauman (2000) es so treffend ausdrückt. Die Kinder der »Borderline-Gesellschaft« erlebten einen Mangel an vertrauten konstituierenden Beziehungen: Die Eltern waren nicht da, teilweise weil sie arbeiteten (schließlich war »Technologie« der von der Gesellschaft verbreitete Wert) und sich Sorgen wegen des drohenden sozialen Abstiegs machten, teilweise aber auch, weil sie auf der Beziehungsebene inkompetent waren (die Borderline-Ambiguität wird mit emotionaler Distanziertheit über dem Nachwuchs ausgeschüttet). Außerdem wuchs die Generation dieser zwanzig Jahre in einer Phase großer Migrationsbewegungen auf. Diese führten dazu, dass sich viele Menschen nicht mehr auf generationenübergreifende Traditionen stützen konnten, die ihnen ein Gefühl des Verwurzelt-Seins vermittelt hätten (Spagnuolo Lobb 2011b).

Viele Traditionen gehen verloren, die Dorfplätze sind durch die virtuellen »Plätze« der sozialen Netzwerke ersetzt worden. Das soziale Erleben der jungen Menschen von heute ist »flüchtig«: Unfähig, die Erregung über die Begegnung mit dem/der anderen für sich zu behalten, sind sie extrem offen gegenüber den Austauschmöglichkeiten, die die Globalisierung der kommunikativen Ströme bietet. Stellen Sie sich ein Kind vor, das Hausaufgaben macht: Wenn es Schwierigkeiten hat, muss es festgehalten werden und braucht Zuspruch, um das Problem mithilfe der Energie zu lösen, die es aufmuntert. Doch da ist kein Ansprechpartner zu Hause, niemand, der dem Kind als begrenzende Mauer helfen könnte zu verstehen, was es fühlt und was es will. Also geht es ins Internet, wo eine Suchmaschine die Lösung liefert.

Seine Erregung wird über die ganze Welt verbreitet und es findet jede erdenkliche Antwort, doch nicht das Containment einer Beziehung, keinen menschlichen Körper, sondern nur einen kalten Computer, der das Kind nicht umarmen kann. Aus der unbeschränkten Erregung wird Angst. Diese Angst ist verstörend, und um sie nicht spüren zu müssen, muss der Körper desensibilisiert werden. Aus diesem Grund haben wir es heute mit so vielen Angststörungen (wie Panikattacken7, PTBS etc.) zu tun, mit Schwierigkeiten, Bindungen einzugehen, mit Pathologien im Zusammenhang mit der virtuellen Welt, mit körperbezogener Desensibilisierung. Unsere PatientInnen, besonders die Jüngsten unter ihnen (wie jeder weiß, der mit Jugendlichen oder jungen Paaren arbeitet) sagen Dinge zu uns wie: »Ich hatte das erste Mal mit einem Jungen Sex, doch ich habe nichts dabei gefühlt«, »Online in einem Chat fühle ich mich frei, aber ich weiß nicht, worüber ich mit meiner Freundin reden soll«, »Niemand interessiert mich so wirklich« oder »In unseren Flitterwochen hat mir mein Ehemann gesagt, dass er schon lange mit einer anderen Frau zusammen ist.« Es treten Formen des Unwohlseins auf, die mit einer Gefühllosigkeit des Körpers im Zusammenhang stehen, wie sie in der Beziehung auftritt.

Die TherapeutIn reagiert darauf, indem sie den physiologischen Prozess des Kontaktes (das Es der Situation, wie Robine (2006a) es ausdrückt) fördert: »Atmen Sie und fühlen Sie, was an der Grenze passiert«. Außerdem unterstützt sie den Hintergrund des Erlebens: Sie findet heraus, wie (durch welche Kontaktmodalität) die PatientIn die Gestalt (oder das Problem) aufrechterhält. Mit anderen Worten: Die TherapeutIn konzentriert sich nun auf die Unterstützung des Kontaktprozesses, und zwar an dem Punkt, wo sie einst ihre Aufmerksamkeit auf die Unterstützung einer egoistischen Individualität richten musste, damit sie sich gegen andere Individualitäten durchsetzen konnte. Man könnte es auch so ausdrücken: Wenn gesund zu sein früher implizierte, herauszufinden, warum jemand gewinnt und siegreich aus dem Lebenskampf hervorgeht, so bedeutet es heute, die Wärme in intimen Beziehungen und die emotionale und körperliche Reaktion auf den/die Andere(n) zu erleben. In Gruppen unterstützt die TherapeutIn jene harmonische Selbstregulierung, die beim (Er)Leben eines horizontalen (gleichwertigen) Kontexts entsteht, in dem man atmen und sich gegenseitig Unterstützung bieten kann.

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