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3.3 Die Rolle der Aggression im sozialen Kontext und das Konzept der Psychopathologie als nicht unterstütztes Ad-gredi9

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In seinem intuitivem Verständnis von Kindheitsentwicklung betont Fritz Perls das Element des Dekonstruierens, des Zerkleinerns, das mit dem Wachstum der Zähne einhergeht (dentale Aggression, Perls 1942). Dabei geht er davon aus, dass die menschliche Natur fähig ist, sich selbst zu regulieren. Diese Auffassung zeichnet sicherlich ein positiveres Bild als die mechanistische Vorstellung vom Menschen, die Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts verbreitet war (und die vor allem in der Freudschen Theorie deutliche Spuren hinterließ). Die Fähigkeit des Kindes zu beißen unterstützt und begleitet seine Fähigkeit, die Realität zu dekonstruieren. Diese spontane positive Aggression erfüllt nicht nur eine Überlebensfunktion, sondern ist auch von gesellschaftlicher Bedeutung. Sie macht es dem Individuum möglich, sich eigenständig das in seiner Umwelt zu beschaffen, was seine Bedürfnisse befriedigt, und es seiner Neugierde entsprechend zu dekonstruieren.

Die physiologische Erfahrung des Ad-gredi10 fördert die umfassende reorganismische Erfahrung, auf den anderen zuzugehen. Sie verlangt nach Sauerstoff, d. h. sie muss durch das Ausatmen ausgeglichen und unterstützt werden. Das Ausatmen ist ein Moment des Vertrauens gegenüber der Umwelt, in dem der Organismus sich entspannt und die Kontrolle abgibt, um spontan und selbstregulierend einen weiteren Atemzug zu tun und den Körper mit neuem Sauerstoff zu versorgen.

Das Aussetzen der Kontrolle, wo man sich dem anderen oder der Umwelt überlässt, ist das fundamentale Signal für den Rhythmus von Vertrauen und Kontrolle, damit dieser spontan ablaufen kann. Dies ist die Vorbedingung dafür, dass ein zweiter Rhythmus möglich wird, jener von Kreativität und Anpassung, der die aktive und die zurückgenommene Präsenz ausbalanciert, indem er das konstitutiv Neue im Kontakt mit dem anderen assimiliert.

Wenn diese Unterstützung durch den Sauerstoff ausbleibt, wird aus Erregung Angst. Die gestalttherapeutische Definition von »Angst« lautet »Erregung minus Sauerstoff«. Es fehlt die physiologische Unterstützung, um den anderen/die andere zu erreichen. Der Kontakt kommt in jedem Fall zustande (er kommt immer zustande, solange es das Selbst gibt oder solange es Leben gibt), doch die Erfahrung ist von Angst geprägt (Spagnuolo Lobb 2005d; vgl. Ruella 2001). Dies impliziert eine gewisse Desensibilisierung der Kontaktgrenze: Um die Angst nicht zu spüren, ist es notwendig, die Sensibilität im Hier und Jetzt des Kontaktes mit der Umwelt teilweise schlafen zu lassen. Die Folge ist, dass das Selbst nicht vollständig fokussiert werden kann, die Achtsamkeit nimmt ab und der Akt des Kontakts verliert seine Achtsamkeit und Spontaneität.11

Aus diesem Grund beobachtet die GestalttherapeutIn den körperlichen Prozess der PatientIn im Kontakt. Stellt sie fest, dass die PatientIn nicht vollständig ausatmet, während sie sich auf ein wichtiges Erleben konzentriert, regt sie sie an auszuatmen. Die TherapeutIn weiß, dass die PatientIn auf der physiologischen Ebene gerade eine Erregung ohne Sauerstoff erlebt. Sie weiß auch, dass die PatientIn in diesem Moment vom therapeutischen Kontakt abgelenkt ist und nichts Neuartiges in sich aufnehmen kann, das darin enthalten ist. Der therapeutische Kontakt kann also nicht ohne die Unterstützung durch Sauerstoff funktionieren, da Veränderung nach Auffassung der Gestalttherapie alle geistig-körperlichen und beziehungsbezogenen Prozesse betrifft. Die PatientIn sollte daher zum Ausatmen ermuntert werden. So wird ihr die Unterstützung durch den Sauerstoff zuteil und sie kann das Neue im therapeutischen Kontakt akzeptieren.

Die Gestalttherapie verbindet also auf wunderbare Art und Weise die »animalische« und die »soziale« Seele, die in der philosophischen Kultur der westlichen Welt über Jahrhunderte hinweg als unvereinbare Gegensätze betrachtet wurden: Wenn der Kontakt ein übergeordnetes Motivationssystem ist, gibt es keine Trennung zwischen dem instinktiven Überlebenstrieb und dem sozialen Wunsch nach Gemeinschaft.12

Der Akzent, den die Gestalttherapie auf das Beziehungsgefüge legt, hat also im Zusammenhang mit der Selbstregulierung (zwischen Dekonstruktion und Rekonstruktion) des Austauschs zwischen Organismus und Umwelt eine anthropologische Wertigkeit. Im Hinblick auf die Annahme, dass Kreativität das »normale« Ergebnis der Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft ist, hat er eine sozio-politische Wertigkeit. Die kreative Anpassung ist tatsächlich das Ergebnis dieser spontanen Überlebenskraft, die es dem Individuum ermöglicht, sich vom sozialen Kontext abzugrenzen und gleichzeitig ein vollwertiger und wichtiger Teil dieses Kontextes zu sein. Jedes menschliche Verhalten, selbst pathologisches Verhalten, wird als kreative Anpassung betrachtet.

Das Konzept des Ad-gredi findet seinen gestalttherapeutischen Niederschlag in der Bildung der Kontaktgrenze.

Gestalttherapie in der klinischen Praxis

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