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Der Staat, eine offene Frage

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Hans Ulrich Gumbrecht und René Scheu

Um 1990, am Ende des Kalten Kriegs, schien die eine große Frage der zweiten Jahrhunderthälfte – die Frage nach dem Staatsmodell der Zukunft – ihre definitive Antwort gefunden zu haben. Die demokratisch-marktwirtschaftliche Ordnung hatte demnach über die sozialistische Planwirtschaft gesiegt. Was dabei gerne vergessen wurde (und zuweilen noch immer wird): ›Kalt‹ war jener Krieg trotz aller nuklearen Hochrüstung der Sowjetunion und der Vereinigten Staaten als Führungsmächten des Sozialismus und des Kapitalismus ja immer nur deshalb gewesen, weil er sich seit den späten 1940er Jahren als ein Effizienz-Wettbewerb zwischen zwei ›modernen‹ Auffassungen und Formen von Staatlichkeit vollzogen hatte. Nicht das moralischere, sondern das effizientere System sollte triumphieren.

Die gemeinsame genealogische Beziehung auf die Moderne war dabei zu jenem Konsensus-Hintergrund für das Staatsverständnis auf beiden Seiten geworden, ohne den es zu einem derart dramatischen unauflösbaren Widerspruch wie im Kalten Krieg sonst nie hätte kommen können. Genauer beruhte der Konsens auf drei aus den Traditionen der europäischen Aufklärung übernommenen Prinzipien:

Erstens vor allem auf dem Paradox von der Volkssouveränität als Prinzip der Legitimität, dem Jean-Jacques Rousseau (1712–1778) zuerst eine begriffliche Form gegeben hatte: In der Existenz und im Handeln des Staates soll das Volk zugleich zum kollektiven Herrscher und zum kollektiven Untertanen werden.

Zweitens galt die von Montesquieus Denken abgeleitete Gewaltenteilung als Prinzip der Struktur: Die Macht des Staates ist in die drei voneinander unabhängigen Dimensionen der Legislative, Exekutive und Judikative aufzuteilen.

Und schließlich erkannten die antagonistischen Kräfte des Kalten Kriegs drittens auch beide das Prinzip vom staatlichen Gewaltmonopol an, demzufolge allein durch Handlungen des Staats das Potential von Macht in Gewalt als physische Wirklichkeit umschlagen darf.

Nach dem Sieg der westlichen Alliierten und der Sowjetunion über die europäisch-asiatische ›Achse‹ des Faschismus im Zweiten Weltkrieg hatte sich die gemeinsame Matrix der Auffassung vom modernen Staat dann fortschreitend zu einem geradezu idealtypischen Kontrast auseinanderentwickelt. Der Staatssozialismus war seit der Oktoberrevolution des Jahres 1917 offiziell und explizit von einem geschichtsphilosophischen Rahmen für sein Selbstverständnis ausgegangen, nämlich der von Karl Marx (1818–1883) inspirierten Prognose, dass die Menschheit in ihrer Geschichte durch eine Phase von Klassenkämpfen zum Idealzustand der klassenlosen Gesellschaft gelangen werde. Aufgabe des Staates sollte es sein, die Gesellschaft unbedingt auf diesem Weg zu halten, an dessen Endpunkt er sich als Realisierung der Volkssouveränität selbst überflüssig machen würde. Deutlich stellten die Anhänger der Vorstellung von der klassenlosen Gesellschaft den Wert der Gleichheit über den Wert der Freiheit. Dies führte schließlich dazu, dass der Staatssozialismus seinen Bürgern die Freiheit der Wahl von Vertretern der Legislative und der Exekutive, aber auch die Freiheit der Wahl in den Zielorientierungen des staatlichen Handelns verweigerte. Schon in Rousseaus Unterscheidung zwischen der zu vernachlässigenden volonté de tous (frei übersetzt: ›dem Willen der meisten‹) und der ausschlaggebenden volonté générale (›dem übergeordneten Willen‹) war eine solche Selbstermächtigung des Staats angelegt gewesen. Daran schloss bald eine Tendenz des sozialistischen Staats mit seiner aus der Geschichtsphilosophie abgeleiteten Agentenfunktion an, das Prinzip der Gewaltenteilung in die Inszenierung einer permanenten Konvergenz von Legislative, Exekutive und Judikative zu überführen. Angesichts dieses Schwundes interner Kontrollstrukturen entwickelte sich der Staat der sozialistischen Praxis zu einer brutalen Allmachtinstanz gegenüber dem individuellen und dem sozialen Leben.

In den Vereinigten Staaten, in Großbritannien und in Frankreich hingegen waren Formen des Staats eher auf Distanz zum Überbau geschichtsphilosophischer Zielvorstellungen geblieben. Sie mochten in verschiedener Weise die Praxis einer kapitalistischen Wirtschaft befördern, aber erhoben diese Funktion nie zu einer expliziten Leitvorstellung. Eher entstand und verstärkte sich eine offene Konkurrenz zwischen verschiedenen Vorstellungen vom Gebrauch der staatlichen Macht, die nicht auf End- oder Ideal-Vorstellungen zustrebten. Im je eigenen Interesse betonten solche zu politischen Wirklichkeiten werdenden Konzeptionen sowohl die Einhaltung der Regeln von Gewaltenteilung als auch eine Priorität des Werts individueller Freiheit gegenüber dem Wert der Gleichheit. Je freier die Bürger in der gegebenen rechtsstaatlichen Ordnung agieren (so die implizite Überzeugung), desto wohlhabender und fairer dürften die Gesellschaften sich in der Folge entwickeln.

Die Diskussion über mögliche Gründe für den erstaunlich schnellen Kollaps des sowjetischen Sozialismus bzw. der von ihm abhängigen Staaten am Ende des 20. Jahrhunderts und über den sich daraus ergebenden Sieg der weniger konturierten westlichen Staatsformen hat bis heute kein Ende gefunden. Dies muss angesichts der Tatsache, dass Antworten zu Fragen solcher Art allein auf Interpretationen, aber nie auf harten Fakten beruhen können, niemanden überraschen. Überraschend hingegen wirkt vor dem Hintergrund der Zukunftserwartungen um 1990 die steile Zunahme der Komplexität in den Debatten über den Staat. Offenbar hatte der Abschluss des Kalten Kriegs doch nicht zu deren Ende geführt.

Zukunft des Staates – Staat der Zukunft

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