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2.2.2.2. Die drei Fassungen des ‚Armen Heinrich‘
ОглавлениеFassungFassungsdivergenzEine vergleichbare Situation finden wir auch in der Überlieferung des ‚Armen Heinrich‘ (→ Verzeichnis der Handschriften und Fragmente). Obwohl es sich um einen mit 1500 Versen relativ kurzen Text handelt, können wir heute noch mindestens drei völlig verschiedene Fassungen nachvollziehen – bei nur drei vollständigen Handschriften und drei Fragmenten. Wieder ist es v.a. das Ende der Erzählung, das die größten Abweichungen bietet. Doch anders als beim ‚Iwein‘ sind auch an anderen Stellen grundlegende konzeptuelle Unterschiede zu beobachten. Die uns erhaltenen Fassungen vermengen unterschiedliche Erzählschemata und hybridisieren sie zu einer Einheit (Warning 2004). Das erschwert die gattungstypologische Einordnung dieses kleinepischen Textes, der zwischen LegendeLegende, Märchen und Exempel steht. Ich versuche, die Situation knapp zu umreißen; im Ergebnis kann man auch hier, wie beim ‚Iwein‘, nicht mehr von einem autornahen Text sprechen, sondern nur noch von nebeneinander existierenden Fassungen. Der Text der Handschrift A (die Handschrift ist 1870 in StraßburgÜberlieferung verbrannt, jedoch durch frühere Abschriften vollständig rekonstruierbar) aus dem 14. Jahrhundert galt bis in jüngste Zeit als der Hartmann am nächsten stehende. Hier heiratet HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) nach seiner wunderbaren Genesung am Ende die MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘). Wegen des Standesunterschiedes (ein Ritter heiratet eigentlich kein Bauernmädchen) ist das allerdings ein ‚Märchenschluss‘ mit einem alle zufriedenstellenden Happy End.
FassungFassungsdivergenzDemgegenüber steht Fassung B, repräsentiert durch zwei Handschriften (Ba → Abb. 2.4. und Bb), von denen die eine nachweislich eine ziemlich getreue Abschrift der anderen (z.T. sogar durch den gleichen Schreiber) ist; sie hängen also sehr eng miteinander zusammen. Hier gibt es zwar auch einen glücklichen, aber keinen so märchenhaften Ausgang: Nach Gesundung und freudiger Rückkehr heiraten HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) und die MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘) nicht, sondern gehen ins Kloster – nach dem abgewendeten Opfertod des Mädchens und der wundersamen Heilung Heinrichs wollen sie sich aus der Welt zurückziehen und auf diese Weise neben dem körperlichen auch ihr Seelenheil gewinnen. Ein solcher moniage, ein Rückzug der Protagonisten ins Kloster, ist ein durchaus konventioneller, aber eher geistlicher Schluss. Zu dieser Grundkonzeption passen auch weitere, tiefgreifende Änderungen, die B gegenüber A aufweist: Die wichtigste ist das Alter des Mädchens, das zu Beginn der Handlung in A erst 8 Jahre alt ist, in B jedoch immerhin schon 12. Wenn es drei Jahre später beschließt, sich für Heinrich zu opfern, ist es in A immer noch ein unmündiges Kind, das freilich bereits rhetorisch brillant und theologisch überzeugend argumentieren kann – dieses wenig wirklichkeitsnahe Verhalten passt in gewisser Weise zum Märchenschluss von A. In Fassung B ist das Mädchen dagegen bereits 15 Jahre alt, im heiratsfähigen Alter und reifer; ihre Beziehung zu Heinrich trägt zudem deutlich erotischere Züge. Umstellungen und Erweiterungen gegenüber A, v.a. in der Argumentation, mit der die MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘) ihre Eltern von ihrem Opferwillen überzeugt, lassen sie eigenständiger erscheinen und zielen darauf ab, mit ihrem Opfer nicht nur Heinrich zu retten, sondern zugleich auchÜberlieferung das eigene Seelenheil zu gewinnen (vgl. Schiewer 2002). In dieser nur knapp umrissenen Konstellation ist ein geistlicher Schluss nur folgerichtig und fügt sich in die Gesamtkonzeption von B ein.
2.4.
Beginn des ‚Armen Heinrich‘ in Handschrift Ba (erstes Viertel des 14. Jahrhunderts).
Bezieht man zu diesen Überlegungen nun auch noch den ÜberlieferungskontextÜberlieferungskontext mit ein, so bilden die beiden Fassungen auch hier ein eigenständiges Profil aus. Im Gegensatz zu den beiden ältesten ‚Iwein‘-Handschriften, die nur diesen einen, freilich auch wesentlich längeren Text enthalten, findet sich der deutlich kürzere ‚Arme Heinrich‘, soweit sich das noch nachweisen lässt, stets im Verbund mit anderen Texten. Es handelt sich um Sammelhandschriften, die hauptsächlich kurze bis kürzeste Werke (bis hin zu Sinnsprüchen), dies jedoch in großer Anzahl, beinhalten; zum überwiegenden Teil Mären- und Exempeldichtungen. Handschrift A umfasste 27 solcher Texte, die beiden Handschriften der Fassung B enthalten sogar weit über 200. Vergleicht man die anderen Texte der jeweiligen Handschriften inhaltlich miteinander, so lässt sich zumindest ein Trend erkennen: Die Mehrheit der kurzen Erzählungen und Sprüche in A sind eher komisch bis derb, zugespitzt formuliert bieten sie vor allen Dingen unkomplizierte, launige Unterhaltung. Das ‚Happy End‘ mit Märchenschluss passt gut in Überlieferungeinen solchen Zusammenhang. Umgekehrt beinhalten die beiden Handschriften der B-Fassung auch sonst überwiegend Texte mit einer geistlich-religiösen Komponente. Insbesondere diejenigen in der unmittelbaren Umgebung des ‚Armen Heinrich‘, also die vor und nach dieser Erzählung stehenden Texte, sind dezidiert religiös konnotiert. In eine solche Reihe wiederum fügt sich gerade der geistliche Schluss von B hervorragend ein, der dagegen neben den anderen Texten von A regelrecht deplatziert wirken würde (Hammer/Kössinger 2012:160–162). A bietet die problematischere, weil unrealistische Fassung, während der religiöse Anspruch in B wohl eher den literarischen Konventionen entsprochen haben dürfte; beide Fassungen stimmen mit der Schwerpunktsetzung ihres jeweiligen Überlieferungskontextes überein.
FassungFassungsdivergenzVerkompliziert wird die Lage durch den Fund von Fragmenten, die 1965 bei Restaurierungsarbeiten an der Orgel der Klosterkirche Benediktbeuern aufgetaucht sind: Insgesamt 11 Pergamentstreifen einer Handschrift waren zur Abdichtung in die Orgelpfeifen eingeklebt, der Erhaltungszustand des Pergaments ist dadurch ziemlich schlecht. Da sie der Länge nach zerschnitten sind, lassen sich vielfach nur noch die Versanfänge oder -schlüsse der enthaltenen Texte erkennen; erst kriminaltechnische Methoden konnten die Lesbarkeit einiger Abschnitte wieder entscheidend herstellen. Zufällig jedoch sind in diesem mit E bezeichneten Fragment sowohl der Anfang als auch der Schluss des ‚Armen Heinrich‘ erhalten (der Anfang vollständig, der Schluss über die Versanfänge rekonstruierbar), während der Text in der Mitte weitgehend verloren ist (→ Abb. 2.5.). Aus dem wenigen, was erhalten ist, lassen sich weitreichende Schlüsse ziehen: Hier liegt offenbar eine Fassung vor, die sich von den bisherigen gründlich unterscheidet; u.a. fehlt der Prolog, in dem sich Hartmann als Autor nennt. Gekürzt ist aber auch der Schluss: Gegenüber A und B endet der Text von E nicht mit Heirat oder moniage, sondern schon viel früher, nämlich mit der wunderbaren Heilung und der Rückkehr von HeinrichHeinrich (‚Armer Heinrich‘) und Überlieferungder MeierstochterMeierstochter (‚Armer Heinrich‘), deren weiteres Schicksal offen bleibt.
Abb. 2.5.
Zwei der elf Teile von Fragment E des ‚Armen Heinrich‘ (um 1300).
FassungFassungsdivergenzDa die Entstehungszeit dieser Handschrift aus paläographischen Gründen noch ans Ende des 13. Jahrhunderts zurückreicht, scheint es sich nicht um eine v.a. für das Spätmittelalter typische KurzfassungFassungKurzfassung zu handeln, wie sie beispielsweise mit der ‚Iwein‘-Handschrift z vorliegt (s.o.). Da man außerdem anhand der erhaltenen Versanfänge sowie der Blattgrößen in etwa den ursprünglichen Gesamtumfang des Textes von E errechnen kann, lässt sich feststellen, dass die wesentlichen Kürzungen v.a. den Prolog und eben das Ende betroffen haben, der Textbestand ansonsten aber offenbar nicht wesentlich kürzer gewesen sein dürfte. Das legt den Schluss nahe, dass es sich bei E nicht einfach um eine gekürzte Fassung handelt, sondern um eine Textform, die der des religiösen Exempels nahesteht (Hammer/Kössinger 2012:158f.). Dazu würde die Anonymität des Textes passen (die Autornennung fällt ja mit dem Prolog weg), v.a. aber der rasche Abschluss der Handlung, der dann den Akzent ganz auf die gnadenvolle Heilung setzt und sich für das weitere Schicksal der Protagonisten nicht interessiert. Dass der Text jedenfalls für didaktische Zwecke geeignet war, zeigt die Aufnahme des Stoffes in lateinische ExempelsammlungenBreslauer Exempelkollektionen (Mertens 2004:939–941), wo der Erzählstoff vom Armen Heinrich als exemplarische Geschichte dargeboten wird, um Gottes Gnade und Barmherzigkeit unter Beweis zu stellen, welche den sündigen Menschen vom Aussatz (der dann weniger im wörtlichen denn im übertragenen Sinne zu sehen ist) heilen kann.
FassungFassungsdivergenzDie Überlieferung von ‚Iwein‘ und ‚Armer Heinrich‘ könnte also unterschiedlicher nicht sein. Der Artusroman ist in zahlreichen Handschriften erhalten, der kurze, legenden- oder Überlieferungexempelhafte ‚Arme Heinrich‘ dagegen nur in drei vollständigen Handschriften. Dennoch zeigt sich ein vergleichbares Bild, denn beide Texte präsentieren sich in ganz unterschiedlichen Fassungen, die insbesondere im Erzählschluss ausgesprochen prägnant voneinander abweichen. Welche Fassung nun das ‚Original‘ Fassungautorisierte F.von Hartmann ist, wäre dabei erneut die falsche Frage. Man kann nur aus der Rezipientenperspektive argumentieren: Offensichtlich lassen sich gerade an den Schluss des ‚Iwein‘ seit jeher ganz unterschiedliche Interpretationsangebote anschließen, und zwar bis ins Spätmittelalter hinein, was das Bewusstsein für und die Auseinandersetzung mit den Ambivalenzen der handelnden Figuren unterstreicht. Es gibt daher keinen ‚richtigen‘ oder ‚falschen‘ Schluss; die beiden Fassungen existieren praktisch von Beginn an nebeneinander.
FassungFassungsdivergenzÄhnlich sieht es beim ‚Armen Heinrich‘ aus, nur dass die geringere Zahl der erhaltenen Überlieferungsträger hier für Unsicherheiten sorgt. Dennoch zeigt sich zumindest, dass am und mit dem Text gearbeitet worden ist, der grundsätzlich offen für Veränderungen und unterschiedliche Interpretationsmodelle war. Verbunden bleiben alle Texte dennoch stets mit dem Namen Hartmann von Aue, dessen schöpferische Tätigkeit damit für die Rezipienten hinter jeder Fassung steht; lediglich die an religiöse Exempel angelehnte und ohne Autornennung überlieferte Fassung E des ‚Armen Heinrich‘ bildet hier eine Ausnahme und zeigt dadurch, wie sich die Übernahme in andere Erzählgenres regelrecht verselbständigt: Da sich der Stoff für Exempeldichtungen eignet, wird der Kern der Erzählung innerhalb derartiger Kontexte losgelöst vom Autor weitertradiert – erst recht erweist sich darin die prinzipielle Offenheit mittelalterlicher Textualität, die unabhängig von Konzepten wie dem des Autors und des Originals‘ von ‚echt‘ oder ‚falsch‘ funktioniert.