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4.1. ‚Klage‘, ‚Büchlein‘, Streitgespräch? Aspekte der Überlieferung und Gattungszuordnung

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Zusammen mit dem ‚Erec‘ gilt die ‚Klage‘, ohne dass sich das sichern ließe, als Frühwerk Hartmanns. Zwischen Textentstehung (um 1180/1200) und uns einzig greifbarer Textüberlieferung (um 1504 im Ambraser HeldenbuchAmbraser Heldenbuch, Handschrift A) liegen rund dreihundert Jahre. Entsprechend schwierig sind angesichts der unikalen und späten Überlieferung alle Versuche der Herstellung eines autornahen Textes. Die Neuedition der ‚Klage‘ durch Gärtner (2015) kehrt für Metrik und Sprachform möglichst weit zur Überlieferung zurück (zu den vorausgehenden Editionen der ‚Klage‘ Gärtner 2009, ders. 2015:XIV–XXII) und erleichtert das Verständnis des vielfach dunklen Textes durch eine Fülle hilfreicher Anmerkungen.

Die Forschung versteht Hartmanns ‚Klage‘ als in ihrer Zeit isoliertes Gattungsexperiment. Uneindeutig zwischen lyrischen und narrativen Sprechakten angesiedeltLyrik und Narration, ist das rund 1900 Verse umfassende StreitgesprächStreitgespräch / disputatio ein signifikantes Beispiel dafür, wie die mittelhochdeutsche Literatur zur Gestaltung innerer Konflikte die widerstreitenden Tendenzen einer Figur in Form allegorischer PersonifikationenPersonifikation / Allegorie auslagern und selbstwidersprüchlich vervielfältigen kann. Schon der Prolog spielt ein Spiel mit verschiedenen Formtraditionen. Der Text beginnt topisch mit einer Sentenz über die Allmacht der Minne: Minne waltet grôzer kraft, / wande sî wirt sigehaft / an tumben und an wîsen, / an jungen und an grîsen (HaKl 1–4). Wenige Verse später kommt er beim konkreten Einzelfall an. Einen jungelinc habe die Minne überwältigt (HaKl 7) – in der autobiographischen Inszenierung auktoriale Selbstdarstellungdes Textes ist es Hartmann von Aue selbst (HaKl 29f.) –, doch weise ihn die Dame trotz stetem Dienst zurück. Nach außen zur Verschwiegenheit verpflichtet, klagt er sein Leid dem muote, seinem Inneren: er klagete sîne swære / in sînem muote / […]. daz waz von Ouwe her Hartman, / der ouch dirre klage began / durch sus verswigen ungemach (HaKl 24–31). Damit ist die Situation exponiert. Der knappe Erzähleingang variiert eine klassische Minnesang-Situation: Minnesang

dô sî im des niht engunde

daz er ir wære undertân,

sî sprach, er solde sîs erlân.

Doch versuochte erz ze aller zît.

disen kumberlîchen strît

entorste er nieman gesagen;

dar umbe wolde ern eine tragen,

ob er sî des erbæte

daz si sînen willen tæte,

daz ez verswigen wære. (HaKl 14–23)

Aber sie gewährte ihm nicht, daß er ihr Gefolgsmann würde, sie sagte, er solle sie mit seinem Dienst verschonen. Trotzdem versuchte er es unablässig. Von diesem leidvollen Konflikt wagte er niemandem zu erzählen; er wollte ihn deswegen allein ertragen, damit, wenn er von ihr erbäte, dass sie nach seinem Willen handelte, dies verschwiegen bliebe.

Dieser diskret als „Reden um des Schweigens willen“ (Gebert 2019:147) ins Innere verschobene Klagemonolog wird unüberhörbar als hochminnesängerische Konstellation eingeführt (HaKl 14–17). Doch er wird gerade nicht lyrisch, sondern narrativ entwickeltLyrik und Narration, im Erzählgestus und Erzählmetrum vierhebiger Reimpaarverse. In der Folge wird er dann außerdem gar nicht als monologische Klage umgesetzt, sondern als Dialog, genauer: als StreitgesprächStreitgespräch / disputatio zwischen Herz und Leib, und dieses dialogisch inszenierte Selbstgespräch kommt ganz ohne Erzähler aus. Stattdessen kann das personifizierte Herz mitten im Streit einen veritablen Natureingang improvisieren (HaKl 821–848), eine lyrische herzeklage im Reimpaarvers. Schließlich, nach rund 1600 paargereimten Dialogversen, verlässt überraschend der Leib die Kontroverse, um im Auftrag des Herzens als Minnesänger vor die Dame zu treten (HaKl 1645–1914). In direkter Anrede an die Dame trägt er das gemeinsame Minneanliegen in fünfzehn kreuzgereimten Strophen vor. Deren Umfang nimmt (die lückenhaft überlieferte 6. und 7. Strophe ausgenommen) kontinuierlich um jeweils ein Verspaar ab, von 32 Versen der ersten Strophe bis zu schlanken vier Versen der letzten Strophe, wobei je zwei Verse zusammengenommen einen alten Langzeilentypus ergeben, der als sogenannte Vagantenzeile in mittellateinischen und mittelhochdeutschen Texten der Zeit weit verbreitet ist.

Die Vielschichtigkeit, mit der Hartmanns nach innen wie nach außen gerichteter Dialog episch-lyrische Formzitate einspieltLyrik und Narration, ist historisch neu. Bereits der Prolog spielt mit Gattungs- und Diskursinterferenzen. Er kündigt eine „Klage“ an (dirre klage, s.o. HaKl 30), was wir weniger als konkretes Gattungssignal verstehen sollten (complainte) als vielmehr im Sinn eines allgemeinen minnelyrischen Sprechakts des Klagens, der schon im MinnesangMinnesang höfische Liebezwischen Liebes- und Rechtsdiskurs schillert und im bekannten Doppelsinn von planctus (Wehklage) und accusatio (Anklage) auch den Sonderfall der Selbstanklage einschließen kann. Gleichzeitig nimmt der Begriff des strît (s.o. HaKl 18), mit dem der Prolog den Widerspruch zwischen stetem Dienst des jungelinc und steter Dienstverweigerung der Dame benennt, die Form des StreitgesprächsStreitgespräch / disputatio implizit vorweg, ähnlich wie die um 1505 von Hans Ried im Ambraser Heldenbuch vermerkte Werküberschrift ‚Disputatz‘ den Text an die Form einer gelehrten Kontroverse anschließt. Der ‚Disputatz‘-Werktitel, mit dem Ried hier die Komplettierung des Hartmann-Corpus in seiner Handschrift erläutert, heißt vollständig: Ein schoene Disputatz Von der Liebe so einer gegen einer schoenen frawoen gehabt vnd getan hat (Bl. 22r → Abb. 4.1., dazu Gärtner 2015:1); der Titel ruft also im selben Atemzug auch den ästhetischen Anspruch des Textes, das Rahmenthema Minne und einen narrativen Hintergrund auf. Diese schillernde Vielfalt bereits historischer Titelgebung ist kein Zufall, und sie wiederholt sich mit wechselnden, kontrovers diskutierten Versuchen der Gattungszuordnung durch die ‚Klage‘-Forschung.

Abb. 4.1.

Überschrift zur ‚Klage‘ im Ambraser Heldenbuch (A) (Detail)

Die ältere Forschung hat den Text wenig geschätzt und überwiegend als Minnedidaxe Lehrdichtungaufgefasst, als ein auf Ausgleich und Integration bedachtes minnetheoretisches Frühwerk Hartmanns, das dessen episches und lyrisches Werk eher beiläufig flankiere. Anders als im komplexeren Fall von Hartmanns Liedern könne die ‚Klage‘ „fraglos, und ohne dass latente Spannungen spürbar werden, innerhalb der gegebenen Ordnungen bestehen“ (so noch Glier 1971:23). Doch schon in formaler Hinsicht ist die Rahmung des dialogischen Hauptteils durch Prolog und Schlussgedicht ungewöhnlich. Die Wechselrede selbst variiert zwischen längeren Redebeiträgen von bis zu 500 Versen und stichomythischem Sprecherwechsel, wobei sich aggressiver und kooperativer Redemodus nicht immer eindeutig voneinander abheben lassen. Entsprechend vielfältig fallen die Versuche der ‚Klage‘-Forschung aus, den Text als diskurs- und gattungsübergreifendes Experiment zu beschreiben: als Übergangsform zwischen der augustinischen Tradition des Soliloquiums, das mit seiner Form der Selbstverdopplung besonders einschlägig sei, „intrapersonale Widersprüche und Aporien zu benennen und aufzulösen“ (Hess 2016:122), lateinischen Leib-Seele-DialogenLeib-Seele-Dialog der ‚Visio Fulberti‘-Tradition ‚Visio Fulberti‘(altercatio, disputatio, conflictus; vgl. Bossy 1976) sowie der scholastischen disputatio-Tradition (zum „Gattungsproblem“ bereits Gewehr 1972).Streitgespräch / disputatio Das dialogische Auseinandertreten von Leib und Herz des (Sänger-)Ich findet sich darüber hinaus auch im kontemporären Minnesang (bereits Glier 1971:22; Parallelen zum lateinischen und romanischen Streitgespräch débat oder dit bei Kasten 1973; zu inhaltlichen Berührungen der ‚Klage‘ mit Hartmanns Liedern → Kap. 3.1.3. und 3.1.4.), auch dort mit auffällig rekurrentem Motiv der Selbstanklage. Nahe liegen außerdem die Tradition des Liebesbriefs (saluts d’amour, ‚Büchlein‘-Tradition) und der heterogene Bereich der sogenannten Minnerede (Glier 1971:20, fasst die ‚Klage‘ als in ihrer Zeit eigentümlich isolierten Minnereden-„Vorläufer“). Moriz Haupt, der die erste vollständige kritische Edition des Textes vorlegte (1842), gab dem Werk den Titel ‚Büchlein‘, was später auch die Edition von Arno Schirokauer (1979) übernahm, Ludwig Wolff (1972) hingegen edierte den Text als ‚Das Klagebüchlein‘. Dieser Titel stelle, so Gärtner (2015:XVIII), „einen Kompromiss zwischen Haupts Gattungsbezeichnung ‚Büchlein‘ und der inhaltlichen Bestimmung klage in V. 30 des Prologs dar“.

Die Forschung ist sich mittlerweile einig, dass die ‚Klage‘ als uneindeutiges Geflecht aus unterschiedlichen Traditionssträngen zu beschreiben sei, für das keine konkreten Prätexte aus der deutschen, französischen oder lateinischen Literatur der Zeit nachgewiesen werden können. Zwar ist Hartmanns ‚Klage‘ ohne diese Kontexte der romanisch-frühhöfischen Literatur und lateinisch-klerikalen Liebes- bzw. Wahrnehmungstheorie nicht denkbar. Die Suche nach Vorlagentexten blieb gleichwohl bis heute ohne greifbare Ergebnisse. Die Quellen von Hartmanns Text „liegen im Zwielicht“, so bereits Cormeau/Störmer (32007:105). Am experimentellen, transgenerischen Status des Textes hält die jüngste Forschung fest, etwa Hess (2016), die die Übertragung des augustinischen Soliloquium-Modells Augustinus, ‚Soliloquia‘Leib-Seele-Dialogauf den Diskurs der höfischen Liebe höfische Liebeins Zentrum ihrer ‚Klage‘-Analyse stellt, während Gebert (2019) stärker auf die Psychomachie-Tradition zurückgreift und deren spezifische Transformation in der höfischen „Wettbewerbskultur“ des Mittelalters verfolgt. Direkte Linien lassen sich hier wie dort kaum ziehen.

Hartmanns formal innovatives, kunstvoll arrangiertes StreitgesprächStreitgespräch / disputatio ist dabei gegenüber seinem Gattungsexperimentstatus in inhaltlicher Hinsicht keineswegs herunterzustufen als „spannungslose“, „optimistische“ Minnelehre (so noch Glier 1971:23). Die ‚Klage‘ ist im Gegenteil, wie hier gezeigt werden soll, Medium einer komplexen Diskursivierung paradoxer Affekte und grundsätzlich gestörten Innen-Außen-Kommunikation des Ich: ein êwiger strît (HaKl 900). Für diese Frage, wie die Gattungs- bzw. Diskursinterferenzen – ihre textübergreifenden Funktionen und Effekte – genau einzuschätzen seien, schwanken die Urteile der Forschung erheblich. Zielt Hartmanns Streitgespräch mit seiner charakteristischen Vervielfältigung von Sprechakten und Sprecherperspektiven auf Krisenbewältigung oder eher auf Konfliktentfaltung?

Hartmann von Aue

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